Kolumnen von Benedikt Weibel
Warum?
NZZ "Reisen und Freizeit" 7. August 2008
Seit Jahrzehnten gehe ich in die Felsen und werde immer wieder gefragt, was denn dabei der Reiz sei. Ich habe es aufgegeben, dafür Erklärungen geben zu wollen. Es geht beim Klettern nicht um Ratio und Verstand (linke Gehirnhälfte), sondern um Emotionen und Gefühle (rechte Gehirnhälfte). Eine Geschichte allerdings, die ich vor langer Zeit gehört habe, bringt die Sache recht gut auf den Punkt.
Ein Mann mit einer Katze zu Hause will in die Ferien. Er bittet seinen Freund, zu seinem Tier zu schauen. Und weil er die Katze sehr liebt, wünscht er, dass dieser dem Tier jeden Tag eine Freude bereitet. Sein Freund verspricht ihm das. Nach seiner Rückkehr findet er Freund und Katze wohlauf. "Hast du der Katze auch jeden Tag eine Freude gemacht?", fragt er ihn und sein Freund bejaht: "Ich habe sie jeden Tag einige Minuten am Schwanz in die Höhe gehoben, und du glaubst gar nicht, wie sehr sie sich gefreut hat, nachher wieder am Boden zu sein."
Besser kann man die Essenz von Abenteuer - Sportarten nicht erklären. Die Intensität des Abenteuers entspricht im übertragenen Sinne der Zeitdauer des am Schwanz Hängens der Katze. Die grosse Masse hängt einige Sekunden oder begnügt sich mit der blossen Vorstellung vom Hängen.
Diese Vorgänge sind mittlerweile auch physiologisch untersucht worden. Wenn ich die Katze in die Luft halte, bildet sich im Nebennierenmark ein Hormon, welches ins Blut ausgeschüttet wird und den Namen Adrenalin trägt. Damit kommen wir zur am wenigsten prosaischen Erklärung für unsere Abenteuerlust: wir suchen den Adrenalinstoss.
Bei einer psychologischen Betrachtung des Phänomens kommt ein anderer Begriff zur Sprache: die Angst. Tatsächlich ist die Angst eine zuverlässige Begleiterin eines Outdoor - Aktivisten. Wenn man lange genug dabei ist, lernt man sie in allen Formen kennen. Dieses dumpfe Gefühl in der Nacht vor dem Einstieg in eine schwere Tour. Die nackte Angst, wenn man weiss, man hat sich verstiegen, der letzte, unzuverlässige Zwischenhaken ist 15 Meter überstiegen und man spürt die messerscharfe Grenze zwischen Panik und Konzentration. Das Gefühl der tödlichen Bedrohung durch Lawinen im Nebel und Neuschnee. Der Punkt, zwischen Sieg und Niederlage, wenn ich weiss, einen Schritt weiter und der Point of Return ist überschritten. Die beiden Ichs kämpfen gegeneinander. Das eine lockt mit dem festen Boden, aber dem bitteren Geschmack der Niederlage, das andere mit der Ungewissheit, noch mehr Angst und dem Sieg über die Wand und sich selbst. Dann steigt man hoch, hängst irgendwann den nächsten Haken ein, die Spannung weicht für einen kurzen Moment und wieder beginnt der Kampf. Oben das kurze Glück, unten der feste Boden und das Bier. Das ist dann der Moment, wo man von der nächsten, noch etwas schwierigeren Wand zu träumen beginnt.
Deshalb gibt es keine rationalen Erklärungen, weil es sich letztlich um einen völlig irrationalen Kreislauf handelt. Viele grosse Expeditions-Bergsteiger fassen diesen Kreislauf lapidar zusammen: "Auf der Expedition denkst du an nichts andres, als an zu Hause. Und zu hause denkst du immer an die nächste Expedition."
Dass das Bedürfnis, in diese irrationale Welt einzutreten (wenn auch vielleicht nur knapp über die Schwelle) sehr gross ist, zeigen die unzähligen Kataloge mit Outdoor Eaquipement. Und auch, dass man sich das am Schwanze hängen einiges kosten lassen muss.
Benedikt Weibel