Kolumnen von Benedikt Weibel

Die Kraft des Bildes

"Persönlich" 1. Juni 2012

Das Bild stand kürzlich in der NZZ. Ein Salafist, der in Wuppertal Gratis-Kopien des Korans verteilt. Wilder Bart, struppige Frisur, stechender Blick, hinter ihm zwei als radikale Muslime kategorisierbare Männer. Es geht etwas Bedrohliches von dem Bild aus. Spontan stellt man sich die Frage, ob wir uns so etwas in unseren Fussgängerzonen gefallen lassen müssen.

Das Bild verdichtet den Inhalt auf einen Augenblick und transportiert ihn umgehend auf die Gefühlsebene. Wie dieses Bild des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten, der verzückt und anbetend zu Herrn Maschmeyer aufschaut. Wer diesen devoten Blick sieht, hat alles verstanden. Die Macht des Bildes ist so stark, dass heute selbst die so seriöse NZZ mit Bildern arbeitet. Und deshalb suchen Textautoren und Blattmacher nach dem Bild, das im Wettbewerb um Beachtung zu diesem entscheidenden Bruchteil einer Sekunde an Aufmerksamkeit verhilft.

Ein Journalist einer Wochenzeitung, die sich den Kampf gegen den Mainstream in den Medien auf die Fahne geschrieben hat, schreibt einen Artikel über die Kleinkriminalität von Roma in der Schweiz. Der Artikel ist korrekt, aber nicht ein Reisser. Man kann sich die Redaktionskonferenz vorstellen. Wie man nach einem Bild sucht, das die Problematik provokativ auf den Punkt bringt. Man findet es: ein Roma-Kind, das mit der Pistole auf uns zielt. Man hat haargenau gewusst, was man damit auslöst. Die Redaktoren des Magazins sind ja nicht ungebildet. Sie kennen die Geschichte der Roma, dieses Volkes, das seit 600 Jahren ausgegrenzt wird. Früher nannte man sie Zigeuner. Von den Nazis wurden sie rassifiziert, deportiert und vernichtet. Seither gilt der Begriff Zigeuner als kontaminiert. Ein unlängst erschienenes Buch über ihre Geschichte zeigt, dass die Roma nie eine Chance hatten. Als geheimnisvolle Wahrsager waren sie noch geduldet, als Betrüger und Sozialschmarotzer werden sie heute in ganz Europa verfemt. '600 Jahre Zigeuner - ihr Platz ist geblieben, wie es die Gesellschaft wollte: ganz am Rand, ganz unten.' Das ist das betrübliche Fazit des Buches.

Meine erste Reaktion, als ich das Romakind mit der Pistole auf dem Cover sah, war Entsetzen. Spontan assoziierte ich dieses Bild mit den provokativen Karrikaturen von Judenköpfen in Nazi-Zeitungen. Kehren wir in die Redaktionskonferenz zurück. Alle wussten, dass sie mit diesem Bild exakt diese Reaktion provozieren würden. Gerade deshalb haben sie es publiziert. Der Zweck (Aufmerksamkeit) heiligt die Mittel (die Diffamierung eines ganzen, ohnehin schon ausgegrenzten und verfolgten Volkes). Die Reaktionen waren wie erwartet. Die Kritik konterte man mit Entrüstung. Es sei typisch, dass einmal mehr auf das einzige Medium eingedroschen werde, welches auf offensichtliche Missstände aufmerksam mache. Der Vergleich mit Naziblättern sei ungeheuerlich und verharmlose den Holocaust. Das Kalkül hinter dieser Geschichte und die gespielte Scheinheiligkeit sind unerträglich.

Benedikt Weibel

(Bogdal, Klaus-Michael: Europa erfindet die Zigeuner, Suhrkamp, Berlin 2011)