Kolumnen von Benedikt Weibel
Das Lizenz-Syndrom
"Persönlich" 1. März 2012
Anfang Jahr bin ich beim Zappen auf das Phänomen gestossen. Es war eine Sendung über gute Vorsätze. Es sei erwiesen, dass Menschen, die auf Grund eines Vorsatzes begonnen haben Fitness zu betreiben, vermehrt Süssigkeiten und Alkohol zu sich nehmen. Das sei eine Folge des sogenannten Lizenz-Syndroms. Wer sich körperlich betätigt, erwirbt sich quasi die Lizenz, um zusätzlich Kalorien zu konsumieren. (Was oft den Effekt des Trainings überkompensiert.)
Seither fällt mir auf, wie verbreitet das Lizenz-Syndrom ist. Ich bin täglich mit dem Velo unterwegs und halte mich grundsätzlich an die Verkehrsregeln. Wenn ich vor der roten Ampel halte, überholen mich unzählige Velofahrer. Mit ihnen bin ich der Meinung, dass das Fahrrad das effizienteste Verkehrsmittel ist. Im Nahverkehrs zeitlich nicht zu toppen und mit einer fast makellosen Energiebilanz. Deshalb glauben sich viele Radfahrer im Besitz der Lizenz für den guten Menschen. Diese Lizenz erlaubt ihnen, nicht nur die Verkehrsregeln systematisch zu brechen, sondern auch rücksichtslos mit anderen Verkehrsteilnehmern umzugehen. Darunter leiden sogar Fussgänger, die eine noch makellosere Energiebilanz aufweisen.
In den letzten Jahren hat sich die Fankultur im Fussball und Eishockey fundamental verändert. Nicht mehr die englischen Fans sind das Vorbild, sondern die italienischen Ultras mit ihren eingeübten Fangesängen, Choreografien, Pyros, Fanmärschen und grossen Fahnen. Vorbilder übrigens, die bisweilen in der Nähe von kriminellen Vereinigungen operieren. Wer heute in der Kurve steht, hat die Lizenz als Fan. Was das heisst, war kürzlich in einem Blog zu lesen: 'Wenn die Kurve einmal keine Probleme mehr macht, ist der Fussball nicht mehr, was er ist.' Und: 'ohne Büros keine Stimmung.' Der Hardcore-Fan ist überzeugt: ohne ihn und seine Kollegen wäre Fussball eine triste Angelegenheit. Alle anderen Stadionbesucher werden als Cüpli-Trinker, Event-Fans oder Touristen verspottet. Mit noch mehr Verachtung und gar öffentlicher Diffamierung werden jene bedacht, die Nulltoleranz fordern.
Das Lizenzsyndrom ist auch in der schweizerischen Medienwelt und in der Politik verbreitet. Die Affäre um die Nationalbank hat gezeigt: wer als Medienschaffender die Lizenz hat, verfügt über die absolute Wahrheit. Er weiss alles, er ist gläubig. Wer glaubt, wird zum Missionar. Zweifel gibt es nicht, Andersgläubige sind Ketzer. Das gilt auch für die Partei, die über die Lizenz für die Schweiz verfügt. Es ist wie bei den Ultras. Wer kein Ultra ist, ist kein Fussballfan. Wer nicht in der Partei ist oder zumindest ihre Vertreter wählt, ist kein Schweizer.
Das Lizenzsyndrom macht arrogant und überheblich. Es führt zu einem gewissen Realitätsverlust, nach Wikipedia 'ein psychisches Phänomen, welches zu sozialer Desintegration und absoluter politischer Unkontrollierbarkeit oder zu Verblendung führt'. Tönt nicht ganz harmlos.
Benedikt Weibel