Kolumnen von Benedikt Weibel

Wenn die Babyboomer in Pension gehen

"Swiss Equtiy Magazin" 3. November 2011

Die Zukunft lässt sich in die drei Kategorien 'das Bekannte', 'das unbekannte Bekannte' und das 'unbekannte Unbekannte' einteilen. Ereignisse der dritten Kategorie prasseln zur Zeit in hohe Kadenz auf uns herab: Fukushima, arabische Revolutionen, Volksabstimmung in Griechenland ... Das, was wir über die Zukunft wissen, gerät demgegenüber in den Hintergrund. Wir wissen seit langer Zeit, dass sich die Alterspyramide unserer Gesellschaft fundamental verändert. Auch der Höhlenmensch habe sich erst dann geregt, wenn der Bär vor seinem Loch stand, sagt man. Verdrängung ist eine urmenschliche Eigenschaft, und sie bestimmt auch unseren Umgang mit den einschneidenden demografischen Verwerfungen. Im Gegensatz zu Deutschland, wo das Thema eine ganz andere Relevanz hat. Wo man sogar gehandelt hat und das Rentenalter nach oben schob. Bei uns führt die Zahl 67 immer noch zu politischem Selbstmord. Die 'Zeit' hat auf anschauliche Weise dargestellt, was geschieht. Die Lebenserwartung nimmt pro Tag um sechs Stunden zu. 50 Prozent der heute in Deutschland lebenden Zehnjährigen werden 100 Jahre alt. Bei den Vierjährigen ist dieser Wert bereits auf 102 Jahre gestiegen. Wer dann102 Jahre alt ist, der wird immer noch eine Lebenserwartung von Monaten oder gar Jahren haben. Was diese Verwerfungen konkret bedeuten, hat der 'Spiegel' mit einer Titelgeschichte 'Hilflos im Alter' behandelt. Fast jede zweite Frau und jeder dritte Mann müssen damit rechnen, altersverwirrt zu werden. Die Zahl der Demenzkranken soll von derzeit 1.2 Millionen bis 2030 auf 1.8 Millionen, bis 2060 auf 2.5 Millionen steigen. Gleichzeitig wird sich der Trend, dass ältere Menschen zunehmend pflegebedürftig werden, fortsetzen. Die Lage in der Schweiz ist nicht grundsätzlich verschieden. Wir können die deutschen Zahlen durch 10 dividieren. Es bleiben beeindruckende Zahlen und beängstigende Zuwächse.

Die Auswirkungen dieser Veränderungen werden kaum einen politischen Bereich auslassen. Sozialwerke, Gesundheitspolitik, Siedelungs- und Wohnpolitik, Finanzpolitik, alle werden betroffen. Der Anteil der wertschöpfenden Bevölkerung wird schrumpfen. Der inaktive Teil nimmt so stark zu, dass er die Abstimmungen in unserer direkten Demokratie entscheiden kann.

Seit Jahrhunderten gilt der Satz Gouverner c’est prévoir. Vor gut vierzig Jahren hat man dem nachgelebt und versucht, die brennenden Probleme langfristig anzugehen. Das Schlüsselwort war Gesamtkonzeption. Riesige Kommissionen von Politikern und Fachleuten haben in jahrelanger Arbeit je eine Gesamtkonzeption für Verkehr (GVK) und Energie (GEK) erarbeitet. Natürlich wurden diese Arbeiten in der politischen Diskussion zerredet und atomisiert. Eine Volksabstimmung über die koordinierte Verkehrspolitik scheiterte kläglich. Trotzdem haben diese Übungen, zumindest im Verkehrsbereich entscheidende Impulse ausgelöst. Vieles, was in der GVK enthalten war, ist heute realisiert.

Wer dem Grundsatz Gouverner c’est prévoir nachlebt, der müsste eine Gesamtkonzeption 'Leben mit veränderter Alterspyramide' ins Leben rufen.

Benedikt Weibel