Kolumnen von Benedikt Weibel

Mythos Bergführer

NZZ "Reisen und Freizeit" 10. April 2008

Mein Vater hat mich schon früh die Berge mitgenommen. So richtig gepackt hat mich aber das Bergvirus nach dem Drama am Eiger im Jahre 1957. Zwei Deutsche und zwei Italiener waren weit oben in der Nordwand blockiert und riefen um Hilfe. Eine Rettungskolonne trug ein Stahlseilgerät auf den Gipfel und einer der Italiener, Claudio Corti, konnte gerettet werden. Das Medienecho war riesig, vor allem weil der Eiger von der kleinen Scheidegg aus so gut eingesehen werden kann.

Ich begann Bergbücher zu lesen, zuerst "Die weisse Spinne" von Heinrich Harrer, einem der Erstbegeher der Eigerwand. Es folgten die Beschreibungen über die Eroberung der Alpen. Da beeindruckten mich vor allem die Bergführer. Ihre Leistungen lassen sich erst beurteilen, wenn man einige ihrer Routen kennt und sich in die Situation von damals versetzt. Die Anmarschwege waren lang, Hütten gab es noch kaum und die Ausrüstung war wirklich prähistorisch.

Trotz ihrer bewundernswerten Leistungen hatten die Bergführer den Gipfelruhm ihren "Herren" zu überlassen. Meine Lieblings-Bergführer aus dieser heroischen Zeit sind Christian Klucker, der steilste Eiscouloirs ohne Steigeisen, mit seinem Pickel hunderte Stufen hackend, erstieg und Josef Knubel, welcher an der Aiguille de Grépon einen extrem schweren Granit-Riss erstieg, welcher nach dem Namen seines "Herrn" als "Mummery-Riss" in die Berggeschichte eingegangen ist.

Ich ging so oft wie nur möglich in die Berge und bald einmal war mein höchstes Ziel, Bergführer zu werden. Stolz rückte ich in den Bergführerkurs ein. Wochenlang standen Alpintechnik und schwere Touren auf dem Programm, aber auch Botanik und Betreuung der Gäste. Unser Klassenlehrer zeigte uns, wie man Suppe schöpft, ohne einen Tropfen zu vergiessen. Noch heute denke ich beim Schöpfen an den leider viel zu früh in den Bergen verunglückten Bruno Kohler. Ich bestand die Ausbildung und die Prüfungen und arbeitete einige Zeit als Bergführer, im Militär, vor allem aber mit Jugendgruppen.

Ich lernte, was führen heisst. Der Bergführer geht voraus und entscheidet. Das schwächste Mitglied der Gruppe nimmt er hinter sich. Der oder die Stärkste geht am Schluss. Der Bergführer wacht darüber, dass die Gruppe immer kompakt bleibt. Während der Tour und in der Hütte betreut er seine Gäste mit dem Ziel, ein unvergessliches Bergerlebnis zu vermitteln. Über allem aber steht sein Primärauftrag: die ihm anvertrauten Menschen wieder sicher ins Tal zu bringen.

Später ist mir bewusst geworden, dass diese Regeln nicht nur am Berg gelten. Das wohl erste Führungshandbuch in der Geschichte ist die Benediktus-Regel aus dem 6. Jahrhundert mit Anweisungen an den Abt für die Führung seines Klosters. Da findet sich dieser schöne Satz: "Vielmehr soll er stets daran denken, dass er die Leitung von Seelen übernommen hat, für die er einst Rechenschaft ablegen muss."

Ich übe den Beruf als Bergführer längst nicht mehr aus, gehe aber immer noch in die Berge. Sonne, warmer Fels, Alpenblumen, grossartige Sicht, es ist eine wunderbare Welt mit viel Erlebnisgehalt und Erholungswert. Nie aber darf man vergessen, dass diese Welt auch ein anderes Gesicht hat. Ein Misstritt, ein Wettersturz, ein verklemmtes Seil, sehr schnell kann aus der Idylle ein Überlebenskampf werden. Wer in diese Welt eintritt, muss sich der stets vorhandenen Gefahren bewusst sein. Und deshalb ist es immer noch empfehlenswert, sich dabei von einem Bergführer begleiten zu lassen.

Benedikt Weibel