Kolumnen von Benedikt Weibel

Wider Dogmatik und Denkverbote

"Swiss Equtiy" 1. September 2010

Wer eine Unternehmung führt weiss, dass vergangener Erfolg trügerisch ist. Auch grosse Namen schützen nicht vor dem Untergang, denken wir nur an das Grounding der Swissair. Heute zählt nur die Gegenwart und die Zukunft. Deshalb gehört der permanente Strategie-Review zum Standardrepertoire effizienten Managements. Die Zukunft hängt von den eigenen Aktionen, den Handlungen der Konkurrenz und der Entwicklung des Umfeldes ab. Über all dem hängt, wie es der grosse Stratege von Clausewitz plastisch ausgedrückt hat, der Nebel der Ungewissheit.

Kaum anders ist die Lage in der heutigen vernetzten Welt für ganze Volkswirtschaften. Die Schweiz ist ein Erfolgsmodell und steht im internationalen Vergleich hervorragend da. Ein gravierender Fehlschluss wäre es indessen, dieses Erfolgsmodell unreflektiert als Garant für die Zukunft zu halten. Im Vergleich zu einer Unternehmung sind die Komplexität und damit der 'Nebel der Ungewissheit' wesentlich grösser. Bereits ein einzelner Faktor kann enormen Einfluss haben. Wo ist eigentlich die Schmerzgrenze der Frankenstärke, die unsere Exportwirtschaft noch erträgt? Deshalb gilt es die Handlungsoptionen immer wieder zu hinterfragen. Was gestern noch gut war, kann schon heute obsolet sein. Bei der Lagebeurteilung ist der Fächer der möglichen Aktionen so breit wie möglich zu halten. Bei der europapolitischen Position reicht der Raum möglicher Alternativen vom Alleingang über den bilateralen Weg, den EWR bis zum Beitritt in die EU mit oder ohne Einführung des Euro. Eigentlich sollte es möglich sein, die Vor- und Nachteile dieser Optionen unter Annahme verschiedener Szenarien einigermassen vorurteilslos aufzulisten. Die Gewichtung politischer Standpunkte fliesst erst bei der Gesamtevaluation ein und darüber findet dann der demokratische Diskurs statt.

Es ist verdienstvoll, dass die Denkwerkstatt Avenir Suisse mit ihrem Strategie- Review genau das getan hat. Die Reaktionen auf diesen Vorgang zeigen allerdings, dass wir von einer vernünftigen Diskussion weit entfernt sind. Bereits wer den Fächer der logisch offensichtlichen Handlungsoptionen öffnet, wird im besseren Falle als EU-Enthusiast bezeichnet, im Schlimmeren mehr oder weniger deutlich als Landesverräter gebrandmarkt. Wer indessen die EU und ihre Institutionen auch nur einigermassen kennt, wird kaum je zum EU-Enthusiast. Aber wie manchen Entscheid in der Unternehmung fällt man aus Notwendigkeit und nicht aus Begeisterung? Auch wenn ich lese, der Druck, EU-Regelungen zu übernehmen komme weniger von der Wirtschaft als von den Beamten in den verschiedenen Ämtern, staune ich über die Unkenntnis der Realität. Ich verfolge zurzeit eine intensive Auseinandersetzung über die Interpretation des Begriffes 'Inverkehrssetzung'. Ein ganzer Wirtschaftszweig setzt sich dafür ein, einen kostentreibenden Alleingang zu verhindern und die EU-Legiferierung im Wortlaut zu übernehmen.

Zentrales Element unserer Kultur ist die Überwindung von Dogmen und Denkverboten und ihr Ersatz durch die praktische Vernunft. Geben wir Acht, dass wir nicht hinter die Aufklärung zurückfallen.

Benedikt Weibel