Kolumnen von Benedikt Weibel
Kanada - ein Land mit Identität
"Sonntag" 7. März 2010
Die Nachricht: Am Sonntag sind die Olympischen Winterspiele in Vancouver mit dem von ganz Kanada ersehnten und frenetisch bejubelten Sieg im Hockey-Turnier und der Schlussfeier zu Ende gegangen. Die Party ist vorbei und jetzt wird Bilanz gezogen. Wir blicken nochmals zurück.
Der Kommentar: Nach 20 Stunden Reise tritt man vor dem Flughafen Vancouver in den Nieselregen und das erste, was einem auffällt, sind die Taxis: ausschliesslich Hybridfahrzeuge. Später weist man uns darauf hin, dass diese auf freiwilliger Basis eingesetzt würden. Der erste Eindruck bestätigt sich immer wieder. Green, Greentech, Recycling, Verwendung einheimischer Materialien (vorzugsweise Holz), CO2 Reduktion, kaum ein Gespräch, in dem diese Themen nicht eine wichtige Rolle spielen.
Der zweite Eindruck beim Flanieren in den Strassen ist die ethnische Vielfalt der Einwohner von Vancouver. 50 Prozent der Bevölkerung haben asiatische Wurzeln. Etwas eint diese kulturelle Vielfalt: the maple leave, das Ahornblatt, all die kanadischen Insignien. Das rote Ahornblatt auf die Backen gemalt, auf Mützen, Handschuhen, Taschen, Jacken, alles ist Kanada. Wie bei dieser Gruppe von Sikhs in ihren Turbanen, die in riesige kanadische Flaggen gehüllt sind. 'Proud to be Canadien', diese Haltung wird mit grösster Selbstverständlichkeit und ohne Pathos zur Schau gestellt. 'I love this country', gar zwei Mal sagt das eine Medaillengewinnerin in einem Interview und es wirkt völlig unverkrampft. Und nicht nur die Offiziellen, auch der Kellner im Restaurant meint 'the best city in the world in the best country in the world'. Neben den äusseren Zeichen der Zugehörigkeit gehört die Begeisterung für Hockey zur kanadischen Identität. Hockey ist mehr als ein Sport, es sei eine kanadische Religion, hört man immer wieder. Nach dem finalen Sieg gegen die USA feierte buchstäblich ganz Vancouver in den Strassen. Trotz der enormen Bedeutung, die Hockey hat, gibt es offenbar kaum Probleme mit Hooligans und Gewalt von Fans. Fairness ist ein Wert, der auch die gegnerische Mannschaft einschliesst.
Der dritte prägende Eindruck betrifft die Perspektive der Einwohner von Vancouver. Ihr Blick ist nach Westen gerichtet, auf und über den Pazifik. Man versteht sich als Teil dieses pazifischen Raums und ist überzeugt, dass sich hier die Zukunft abspielt. Keine westliche Stadt sei näher an Peking gelegen als Vancouver, wird betont. Da spürt man Optimismus, Dynamik und Aufbruch. Die Zukunftsindustrien sind Software, Gaming, Movies, Biotech, Greentech. Ohne Zweifel haben die Olympischen Spiele diese Stimmung noch verstärkt. Gegenüber den chinesischen Grossstädten sieht man in Vancouver einen grossen Vorteil: die Lebensqualität. In der Tat ist das Nebeneinander von Ozean, Bergen und riesigen menschenleeren Räumen überaus attraktiv. Deshalb hört man auch immer wieder das Wort 'Layback', was wohl Entspannung in dieser grossartigen Landschaft bedeutet. Irgendwann beginnt man den Unterschied zwischen neuer und alter Welt zu begreifen und man geniesst es, für einige Tage dem Weltschmerz und der Nabelschau entronnen zu sein.
Natürlich stellt man sich auch in Vancouver die Frage 'was bleibt?'. 'The legacy' - das Vermächtnis - dieses Thema ist überall präsent. Der Ausnahmezustand ist vorbei und wenn die definitiven Zahlen auf dem Tisch liegen, wird sich wohl mancher die Augen reiben. Vorläufig gilt aber noch, was in grossen Lettern in einer Zeitung stand: 'I’ll miss it'.
Damit wir nicht in grenzenlose Euphorie verfallen: das Wetter war tendenziell depressiv. Nicht auszumalen, wenn noch die ganze Zeit der Himmel blau gewesen wäre und immer die Sonne geschienen hätte. Und Whistler, wo die alpinen und nordischen Disziplinen abgehalten wurden, verhält sich zu Zermatt etwa wie Oerlikon zu Zürich.
Benedikt Weibel