Kolumnen von Benedikt Weibel

Mysterium Bergsport

"NZZ" 21. August 2009

Vor fünfzig Jahren stand ich das erste Mal auf einem hochalpinen Gipfel. Ich war nun, ja was eigentlich? Bergsteiger, Alpinist oder Kletterer? Die vorherrschende Meinung damals war, dass es sich dabei keinesfalls um einen Sport handle, sondern um eine ethisch höher zu gewichtende Tätigkeit. Eine Leidenschaft, für die man unter Umständen sein Leben einsetzt.

Es hat sich viel verändert seither. Geblieben ist das diffuse Bild in der Öffentlichkeit. Vor einem halben Jahrhundert war dieses Bild von den 'Etremen' geprägt, in Trittleitern in gewaltig ausladenden Überhängen hängend. Allgemein bekannt war der höchste Schwierigkeitsgrad VI+. Deshalb nannte man die Extremen etwa auch 'Sestogradisten' (heute gerade noch drei Eintragungen bei Google).

Dann schrieb Reinhold Messner sein Buch 'Der siebte Grad' und das System explodierte. Künstliche Aufstiegshilfen wurden verpönt und neue Begriffe tauchten auf: Free Climbing, Clean Climbing, Rotpunkt, Sportklettern, Abenteuerklettern, Tradklettern, Speedklettern, Bouldern... Nun war die Verwirrung für die Outsider total. Wenn ich jemandem erzähle, dass ich klettere, dann werde ich gefragt, ob ich denn Sportklettern betreibe, nur mit den Fingern und ohne Seil. Das Bild, das sich die breite Öffentlichkeit heute vom Bergsport macht, ist geprägt vom extremsten Fall, dem 'Soloing', dem Alleingang ohne jede Sicherung, obwohl nur von einer verschwindend kleinen Minderheit praktiziert. Immerhin besteht kein Zweifel mehr, dass es sich dabei um Sport handelt. Über Schwierigkeitsgrade und deren Bedeutung hat man indessen keine Ahnung mehr. Daran hat auch das Wettkampfklettern an künstlichen Wänden, das eine Randerscheinung ohne Resonanz geblieben ist, nichts geändert.

Wie jeder andere Sport hat sich der Bergsport in den letzten Jahrzehnten enorm professionalisiert, insbesondere in Bezug auf Training und Vermarktung. Dabei gelten die universellen Gesetze. Erfolgreiche Vermarktung basiert auf einer breiten Resonanz in der Öffentlichkeit. Das Spektakuläre muss in einer verständlichen Form vermittelt werden. Bei dem diffusen Bild, das die Öffentlichkeit vom Bergport hat, rückt dabei nicht mehr die Leistung, sondern eine fassbare Geschichte in den Vordergrund. Wenn jemand in St. Loup eine 9 b+ klettert, so ist das ausserhalb der Szene völlig belanglos. Die Eiger-Nordwand in 2 Stunden 47 Minuten hingegen, das ist eine Geschichte, die ankommt. Oder die erste Schweizerin auf dem Everest, auch wenn das von der Leistung her eigentlich gar keine Story mehr ist. Die Profis an der Spitze dieses Sports sind gewaltig unter Druck. Erstens sind die Summen, die im Spiel sind vergleichsweise bescheiden, entsprechend gross der Konkurrenzkampf. Zweitens ist der Einsatz an Training, Können vor allem auch Risiko enorm. Und drittens ist ein hohes Mass an Kreativität gefordert, um eine kommunizierbare Geschichte zu finden.

Still und leise hat sich im Windschatten dieser Entwicklung Erstaunliches ereignet. Die Branchenorganisation, der Schweizerische Alpen Club (SAC), hat sich unglaublich gewandelt. Vor noch gar nicht so langer Zeit war das ein überalterter, stockkonservativer, schrumpfender und exklusiv Männern vorbehaltener Verein. Heute ist der SAC ein moderner, gut geführter Verband mit einem konstanten Mitgliederwachstum, der sich konsequent allen Spielarten seines Sports geöffnet hat und perfekt auf einer gewaltigen Outdoorwelle surft.

Benedikt Weibel