Kolumnen von Benedikt Weibel

Lawinen und andere Eruptionen

"Sonntag" 10. Januar 2010

Die Nachricht: Im schlimmsten Lawinenunglück seit elf Jahren starben am letzten Sonntag im Skitouren-Paradies Diemtigtal sieben Menschen unter den Schneemassen. Nun steht die Schuldfrage im Zentrum.

Der Kommentar: Trotz aller Wissenschaft und der rasanten Entwicklung der Technologie sind Lawinen ein unberechenbares Phänomen geblieben. Französische Wissenschafter beobachteten monatelang den immer gleichen Hang und versuchten, die Gesetzmässigkeiten, die zur Auslösung einer Lawine führen, zu finden. Vergeblich. Selbst bei dieser einfachen Versuchsanordnung waren einfach zu viele Faktoren im Spiel, zum Beispiel die fast unendlichen Möglichkeiten der Schneebeschaffung. Die systematische Auswertung von Lawinenunfällen lässt allerdings Faktoren erkennen, die auf erhöhte Gefahr hinweisen: Hangneigung und -Exposition, Windverhältnisse, Neuschneemengen und die Gefahrenstufe im Lawinenbulletin. Aber auch bei aller Beachtung dieser Faktoren kann ein Restrisiko nie ausgeschlossen werden. Das hat sich im Falle der Lawinen im Diemtigtal wieder einmal erbarmungslos gezeigt. Ausgerechnet im Diemtigtal, diesem Eldorado sanfter Hänge und meist harmloser Skitouren. Besonders tragisch ist dieser Fall, weil eine zweite Lawine die Helfer während ihrem Rettungseinsatz überraschte.

Bei einem Unfall mit Toten und Schwerverletzten untersuchen die Behörden den Fall von Amtes wegen auf vorsätzliche oder fahrlässige Tötung beziehungsweise schwere Körperverletzung. Zunächst stellt sich die Frage nach dem Träger der Verantwortung. Dabei werden Bergführer und Tourenleiter besonders ins Visier genommen. Die Untersuchungsbehörden haben zu prüfen, ob die Sorgfaltspflicht verletzt wurde. Wenn ja, werden die Verantwortlichen verurteilt.

Die Lawine ist ein Gleichnis für das, was in der Wirtschaft geschieht. Nur ist hier die Wirklichkeit ungleich komplexer. Da spielen nicht nur physikalische Faktoren eine Rolle, sondern auch menschliche Entscheide, die sich zum guten Teil der Rationalität entziehen. Heerscharen von Ökonomen, Prognostikern und Riskmanagern arbeiten mit immer höher entwickelten mathematischen Modellen und machen uns glauben, dass sie die Gesetzmässigkeiten des Systems erfasst haben. Welche Überheblichkeit. Auch in der Wirtschaft gibt es nämlich Lawinen. Das sind Brüche einer kontinuierlichen Entwicklung, wie wir das soeben bei der internationalen Finanzkrise erlebt haben. Keines der noch so sophistischen Modelle ist in der Lage, eine solche Diskontinuität vorherzusehen. Aber wie im Falle der Schneelawine gibt es durchaus Faktoren, welche die Gefahrenstufen anzeigen. Vielleicht wäre es auch hier angebracht, periodisch eine Art Lawinenbulletin zu veröffentlichen.

Die Opfer einer Wirtschaftslawine finden sich aber nicht nur in einem Lawinenkegel, sie sind um den ganzen Erdball verteilt und es sind Millionen. Milliarden an Steuergeld haben die Staaten zur Verhinderung von Nachlawinen eingesetzt. Die dadurch bewirkte massive Zunahme der Staatsverschuldung hat die Gefahrenstufe wieder erhöht. Was aber geschieht mit den Bergführern der Wirtschaft, den CEO’s und Verwaltungsräten, die uns in diesen Strudel gerissen haben? Eigentlich ist die Situation viel eindeutiger, als beim Lawinenunglück im Diemtigtal. Gemäss Aktienrecht trägt der Verwaltungsrat die Verantwortung für ein funktionierendes Risikomanagement. Und wenn in der Finanzkrise eines klar ist, dann die Tatsache, dass dieses Risikomanagement versagt hat. Zum Beispiel bei der UBS. Das ist eine offensichtliche Verletzung der Sorgfaltspflicht. Nur: In diesem Falle untersucht niemand von Amtes wegen.

Es bleibt einem nur die Faust im Sack und die Bestätigung, dass die alte Volksweisheit 'die Kleinen hängt man, die Grossen lässt man laufen' immer noch gilt.

Benedikt Weibel