Kolumnen von Benedikt Weibel
Neutralisiert statt neutral
"Sonntag" 29. November 2009
Die Nachricht: Es ist eher selten, dass das Ausland von der Schweiz Kenntnis nimmt. Und daher ist es schon aussergewöhnlich, dass der 'Spiegel' der Schweiz einen bemerkenswerten Essay widmet. Von dem in unserem Lande kaum Kenntnis genommen wird.
Der Kommentar: Die Geschichte wird von grossen Trends, Zufälligkeiten und Sachzwängen getrieben. Das konnten wir soeben bei der Rekonstruktion des Mauerfalls in Berlin wieder lernen. Es gehört zur Legendenbildung, dass die Schweiz eine Willensnation ist. Napoleon hat der Eidgenossenschaft eine einigermassen moderne Verfassung aufgezwungen. Nur aufgrund von massiven Zwängen und weil keine Alternativen bestanden, haben sich die Kantone zum Bundesstaat zusammengeschlossen. Notabene, nachdem man sich ein Jahr vorher noch in einem Bürgerkrieg die Köpfe eingeschlagen hat. Beide Parteien haben damals übrigens auf die Unterstützung ausländischer Mächte gehofft. Auch die Neutralität war ein Sachzwang, vom Wienerkongress auferlegt, aus dem man eine Tugend gemacht hat. Damit konnten wir uns in wundersamer Weise aus zwei Europäischen Kriegen heraushalten.
Der Artikel im 'Spiegel' seziert die Lage der Schweiz mit gnadeloser Schärfe: 'Die Schweiz war eine Meisterin der Unauffälligkeit. Doch nun ist die Bühnenscheue auf die Weltbühne gezerrt worden, und sie kommt mit ihrer Rolle nicht zurecht.' Und kommt zum Schluss: 'Diese bemerkenswerte Geschichte erschwert die Debatte über die Gegenwart, weil sie stets in der Vergangenheit endet... Als einer der wichtigsten Finanzplätze rückt das Land wirtschaftlich immer weiter ins Zentrum der Welt, während es noch dem Glauben nachhing, es könne sich politisch weiterhin aus allem heraushalten.'
Zur Zeit der Abstimmung über den EWR hatten wir noch nicht in Ansätzen eine Vorstellung, mit welcher Gewalt das Phänomen, welches wir Globalisierung nennen, über unsere Welt fegen würde. Es wird immer fragwürdiger, in dieser Lage eine Konzeption, welche ihre Ursprünge im 16. Jahrhundert hat, zu mythologisieren. Wir pochen auf unsere Unabhängigkeit und werden uns in seltenen lichten Momenten schmerzlich gewahr, dass wir faktisch immer anhängiger werden. Der Chefredaktor der NZZ hat es mit einem Satz ausgedrückt, der wie ein tiefer Seufzer tönt: 'Die Erkenntnis hat daher rasch zu reifen, dass der Kleinstaat Schweiz an die Grenzen des politisch Durchsetzbaren stösst in einer Welt, in der lange Zeit fragmentierte Macht- und Interessenpolitik einzelnen Staaten in Teilbereichen plötzlich gegen die Eidgenossenschaft gebündelt wird.'
Wie schnell es geht, wenn der Druck wächst, zeigen die Beispiele von Island und Irland. Island war vor der Krise wie die Schweiz: Man fühlte sich stark und unabhängig und man hatte ein im Vergleich zur Grösse des Landes massiv überdimensioniertes Bankensystem. Auch Irland markierte Distanz zur EU und brachte die Union mit einem Nein des Volkes zum Reformvertrag von Lissabon in eine schwierige Lage. Mit dem Rücken an der Wand haben sich beide Völker nun klar zur EU bekannt, der schieren Not gehorchend. Dabei ist in Irland die Zustimmung zum neuen Vertrag in nur 15 Monaten von 47 Prozent auf 67 Prozent gewachsen, und das auch noch mit einer wesentlich höheren Stimmbeteiligung.
Die beiden Beispiele bestätigen einmal mehr die uralte Erkenntnis: Schon der Höhlenbewohner hat erst reagiert, wenn der Bär vor seiner Höhle stand. Wenn aber Politik auch nur entfernt etwas mit 'gouverner c’est prévoir' zu tun haben will, dann wäre nun der Moment für eine Grundsatzdiskussion gekommen. Tatsächlich sind wir schon heute eher neutralisiert als neutral.
Benedikt Weibel