Kolumnen von Benedikt Weibel

Die unerträgliche Langsamkeit schweizerischer Rechtsverfahren

"Sonntag" 16. August 2009

Die beiden Meldungen sind kürzlich am gleichen Tag erschienen. In München findet der Prozess der Aktionäre gegen die Hypo Real Estate statt. Und das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass es keinen Grund mehr gibt, das Verfahren des Kantons Genf gegen das Eidgenössische Finanzdepartement zu sistieren.

Die Hypo Real Estate ist 2008 in die Krise gerutscht und stand Mitte Jahr vor dem Kollaps. Die Bank ist mittlerweile praktisch verstaatlicht, die Aktie damit wertlos geworden und deshalb haben die Aktionäre geklagt. Wenige Monate nach der Einreichung der Klage findet der Prozess statt. Die Klage des Kantons Genf geht auf das Debakel der Genfer Kantonalbank Ende der Neunzigerjahre zurück. Der Kanton wirft den Mitgliedern der damaligen Bankenkommission vor, ihre Aufsichtspflicht verletzt zu haben. Die Klage mit einer Entschädigungsforderung von nicht weniger als drei Milliarden Franken wurde im Februar 2002 eingereicht. Der Prozess selber steht noch in weiter Ferne. Fazit: Ein Rechtsverfahren in der Schweiz dauert mehrere Jahre, in Deutschland einige Monate.

Noch schneller sind die USA. Bernard L. Madoff hat ein gigantisches, betrügerisches Schneeballsystem von insgesamt 50 Milliarden Dollars aufgezogen Anfang Dezember 2008 wurde er von der amerikanischen Justiz verhaftet. Trotz der Komplexität des Falles - die Liste der Geschädigten ist 162 Seiten lang - wurde bereits am 11. Dezember Anklage erhoben. Am 12. März 2009 begann der Prozess. Am 29. Juni 2009 wurde er zu 150 Jahren Haft verurteilt.

Jahrelange Verfahrensdauer ist in der Schweiz die Norm. Im Fall der Swissair wurde fünf Jahre lang ermittelt, bis Anklage erhoben wurde. Im Mai 2006 wurde ein Fan des FC Zürich invalid geprügelt, fast drei Jahre später, am 12. März 2009 wird der Täter verurteilt. Besonders krass ist der Vorgang beim tragischen Lawinenunglück an der Jungfrau, bei dem im Juli 2007 sechs Rekruten ums Leben kamen und die Ermittlungen immer noch nicht abgeschlossen sind. Und dieser Fall, das kann ich als ausgebildeter Bergführer beurteilen, ist nun wirklich nicht von besonderer Komplexität. Noch ein Vergleich: Am 4. September 2007 wurde mit einer der grössten Polizeiaktionen in Deutschland die sogenannte Sauerland-Gruppe, eine Bande deutscher Terroristen, ausgehoben. Das Gerichtsverfahren läuft bereits seit dem 22. April dieses Jahres. Es wird interessant sein, die Zeitabläufe beim Verfahren gegen die Schweizer Schläger von München zu verfolgen. Das Verfahren muss schon deshalb schnell abgewickelt werden, weil man die Täter bis zur Gerichtsverhandlung in Untersuchungshaft behalten will. Hätte der Fall in unserem Land stattgefunden, wären sie wohl schon längst wieder auf freiem Fuss und die Verhandlung würde in etwa zwei Jahren stattfinden.

Zügige Verfahren sind für ein funktionierendes Rechtssystem essentiell. Wenn zwischen einer Straftat und einer Verurteilung Jahre verstreichen, geht der ursächliche Zusammenhang zwischen Handlung und Strafe verloren. Warum aber geht es ausgerechnet bei uns so gemütlich zu? Es gibt ein schönes Wort, das solche Phänomene umschreibt: Es ist eine Sache der Kultur. Aus Gründen, die schwer zu begreifen sind, hat sich eine Kultur breit gemacht, die Fristen in Jahren zur Norm macht und nicht in Monaten, wie anderswo. Man sagt, es sei schwieriger, Kulturen zu verändern, als die Gitter in einem Gefängnis zu verrücken. Die angelernte Behäbigkeit des Schweizerischen Justizapparates könnte deshalb nur mit einer Schocktherapie verändert werden. Zum Beispiel mit gesetzlichen Vorgaben über die Dauer von Verfahren.

Benedikt Weibel