Kolumnen von Benedikt Weibel

Vergessene Helden

NZZ "Reisen und Freizeit" 10. Januar 2008

Als "begleitender Experte" für Eisenbahnfragen und als Bergführer habe ich diesen Herbst mit einer Gruppe Indien bereist. Wir fuhren mit der Bahn bis auf das 2200 m hoch gelegene Darjeeling. Jahrzehntelang war diese Stadt der Ausgangspunkt für Expeditionen in den westlichen Himalaya, weil sowohl Nepal wie Tibet aus politischen Gründen nicht zugänglich waren. Die Anmarschwege zu den Basislagern waren gewaltig, der Mont Everest ist 140 km Luftlinie entfernt. Der dominierende Gipfel über Darjeeling ist der Kangchenjunga, dritthöchster Berg der Welt. Der Grenzkamm zwischen Indien und Nepal, der Singalila Ridge, führt in direkter Linie zu diesem wunderschönen Berg. Über diesen Kamm, von Gebietskennern als "the best trek in the world" bezeichnet, wanderten wir während eines mehrtägigen Trekkings.

Zur Reisevorbereitung holte ich meine verstaubten Bücher über die Eroberung des Himalaya hervor. Das Hauptwerk "Der dritte Pol" wurde 1961 verlegt und stammt von Günter Oskar Dyhrenfurth, einem Amerika-Schweizer. Dem Stil der Zeit entsprechend ist es ein nüchterner Tatsachen-Bericht, aus dem die Dramatik nur zwischen den Zeilen erahnt werden kann. Mir fallen dabei Parallelen zum ersten, dem Nordpol und zweiten, dem Südpol auf. Hier setzte in den Neunziger Jahren ein erzählerisches und filmisches Revival ein, welches vergessenen Heroen wie Ernest Shakelton wieder den ihnen zustehenden Platz einräumte. Die ebenso dramatischen Geschichten über die Eroberung der höchsten Berge der Welt warten hingegen noch auf ihre literarische und filmische Aufarbeitung.

Zum Beispiel die Besteigung des "Deutschen Schicksalsberges", des 8125 m hohen Nanga Parbats. In den Dreissiger Jahren wurde er von mehreren Deutschen Expeditionen belagert. In den Lagern wehte die Hakenkreuzfahne. 1934 und 1937 mussten die Ziele nach gewaltigen Lawinenniedergängen mit vielen Todesopfern aufgegeben werden. Bis 1950 waren bei den Besteigungsversuchen 31 Menschen ums Leben gekommen. Die Deutsch-Österreichische Expedition von 1953 hatte schon zum Rückzug geblasen, als der Österreicher Hermann Buhl gegen den Willen des Expeditionsleiters zum Gipfel aufbrach - allein. Um 19 Uhr stand er auf dem Nanga Parbat, biwakierte beim Abstieg stehend auf über 8000 m Höhe und erreicht nach 41 Stunden wieder das Hochlager.

Eine besondere Rolle haben in der Geschichte der Eroberung der welthöchsten Berge auch die Schweizer gespielt. Schon 1905 war ein Schweizer, Alexis Pache, am Kangchenjunga dabei. Auch bei dieser Expedition starben fünf Menschen, darunter Pache. "Pache’s Grave" ist heute noch eine Geländebezeichnung. Zwei von den 14 Achttausender wurden von Schweizern ersterstiegen, der Lhotse durch Ernst Reiss und Fritz Luchsinger und der Dhaulagiri durch Albin Schelbert und Ernst Forrer.

Am erstaunlichsten aber waren die Leistungen der Schweizer am höchsten Berg der Welt, dem 8848 m hohen Mount Everest. Der Everest war bis Anfang der Fünfziger Jahre der Berg der Engländer, welche lange ein Zugangs-Monopol hatten. Nach dem Krieg öffnete Nepal seine Grenzen und damit wurde die Route vom Süden her möglich. 1951 waren wieder die Engländer die Ersten. Sie konnten zwar den riesigen und gefährlichen Khumbu Gletscher queren, nicht aber die gewaltige A-förmige Querspalte am Ende des Gletschers. 1952 versuchten sich erstmals die Schweizer unter Leitung von Edouard Wyss-Dunant am Everest. Die Teilnehmer kamen fast alle aus Genf und Umgebung und gehörten zu den besten Schweizer Alpinisten. Dem jungen Jean-Jacques Asper gelang in schwierigster Eiskletterei die Überwindung der Spalte. Über den "Eperon des Genevois" wurde erstmals der höchste Pass der Welt, der Südsattel erreicht. Zusammen mit dem legendären und auch heute noch verehrten Sherpa Tensing stieg Raymond Lambert bis 8500 m hoch. Ein Jahr später standen Hillary und Tensing auf dem Gipfel. 1956 holte sich eine Schweizer Expedition unter Leitung von Albert Eggler die zweite Begehung.

Diesen Sommer erzählte mir der Hüttenwart der Bergseehütte, dass dieser Albert Eggler, als er bereits 90 Jahre alt war, von Bern mit dem Auto auf die Göscheneralp gefahren sei. Mit seiner Tochter (auch schon über 60) erstieg er am gleichen Tag als Seilerster den Schijenstock über den Südgrat, eine lange und schwierige Route. Er kehrte am Abends um 10 Uhr zur Hütte zurück, stieg noch zur Göscheneralp ab und fuhr heim nach Bern. Wenig später ist er in den Bergen gestorben.

Benedikt Weibel