Kolumnen von Benedikt Weibel

Die Eisenbahn vor ihrem dritten Jahrhundert

"Verkehrshaus Luzern" 5. Juni 2024

1. Die Geschichte einer Innovation

Die grösste Erfindung in der Geschichte der Mobilität ist das Rad - ca. 3200 vor unserer Zeitrechnung.

Ca. 2900: Wagen mit Rädern hinterliessen Spuren im Boden, wenn sie aushärteten, wurde der Transport vereinfacht und man begann, Spurrillen zu bauen. Damit war das erste Puzzleteil der Eisenbahn, die Spurführung, gesetzt.

Ende Mittelalter begann man in den Bergwerken Stollen zu bauen. Das grosse Problem war der Transport der Rohstoffe und des Aushubmaterials an die Oberfläche. Die Erfindung der Lore führten zum zweiten Puzzleteil: die Zugbildung.

Nun versuchte man den Reibungswiderstand zu vermindern. Spurrillen wurden mit Eisen ausgelegt. Ab Mitte des 18. Jh. wurden Eisenschienen verlegt. Rad und Schiene wurden weiterentwickelt: Räder mit Spurkranz und Winkelschiene verringerten den Reibungswiderstand und das Risiko von Entgleisungen.

Das führte zum dritten Puzzeteil: Stahl auf Stahl.

Als James Watt den Kondensator erfand, was die die Effizienz der Dampfmaschine massiv verbesserte, folgte als vierter und letzter Teil des Eisenbahnpuzzles die Lokomotive.

Am 27. September 1825 fuhr die erste Eisenbahn zwischen Darlington und Stockton. Ihre Höchstgeschwindigkeit betrug 24 km/h.

Dank ihrer Systemeigenschaften ist die Eisenbahn in der Lage, grosse Lasten mit hoher Geschwindigkeit zu befördern.

Der geringe Reibungswiderstand hat auch Nachteile. Das Beschleunigungsvermögen schwerer Züge ist bescheiden, der Bremsweg lang und es können nur geringe Steigungen bewältigt werden.

Bereits im 19. Jahrhundert befassten sich Forscher mit der Möglichkeit, den Reibungswiderstand im spurgeführten Landverkehr noch mehr zu vermindern. Im Fokus standen berührungsfreien Antriebstechniken. Dafür boten sich zwei Möglichkeiten an: das Luftkissen und magnetische Kräfte. Frankreich und England setzten auf das Luftkissenprinzip, Deutschland und Japan auf die Magnetschwebebahn.

In den 1960er-Jahren wurde der auf einem mit einer Gasturbine erzeugten Luftkissen schwebende französische Aerotrain mit Propellerantrieb zum Symbol der Verkehrszukunft. 1969 erreichte er auf einer Teststrecke mit 409 km/h einen Geschwindigkeitsrekord für Landfahrzeuge. Die Versuchsfahrten offenbarten einen durch die Strahltriebwerke des Aerotrains erzeugten hohen Lärmpegel und einen gegenüber der Magnetschwebetechnik wesentlich höheren Energieaufwand. Das Projekt wurde begraben.

1934 wurde die Erfindung Hermann Kempers, eine «Schwebebahn mit räderlosen Fahrzeugen, die an eisernen Fahrschienen mittels magnetischer Felder schwebend geführt wird», patentiert. Die eigentliche Entwicklung setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Deutschland setzte auf das elektromagnetische, Japan auf das elektrodynamische Schwebesystem. Auf der deutschen Versuchsanlage Emsland wurde 1987 mit dem Transrapid eine Geschwindigkeit von 412 km/h erreicht. 1992 wurde die Transrapidstrecke Hamburg–Berlin in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen. Zu diesem Zweck verabschiedete der Bundestag eine Reihe von Gesetzen.

In Schanghai baute ein Konsortium von Siemens und Thyssen-Krupp in Kooperation mit Partnern vor Ort die erste Magnetschwebebahn für den kommerziellen Einsatz. Für die 30 Kilometer lange Strecke vom Flughafen in die Innenstadt benötigt der Zug 7 Minuten und 18 Sekunden, die Durchschnittsgeschwindigkeit beträgt 253 km/h.

Bis heute ist die kurze Verbindung zwischen dem Flughafen und der Stadt Schanghai die einzige Magnetschwebebahn im kommerziellen Betrieb geblieben. Die Auslastung blieb weit unter den Erwartungen. Offenbar sind für die Kundinnen und Kunden die Grenzkosten (in Form höherer Preise) grösser als der zusätzliche Nutzen durch die Zeitersparnis, auch weil sie auf billigere Angebote ausweichen können.

Mit dem Entscheid Chinas, die 1300 Kilometer lange Strecke von Peking nach Schanghai mit konventionellen Hochgeschwindigkeitszügen zu betreiben, ist der Systemwettbewerb entschieden worden.

Vom Hyperloop, mit dem Elon Musk den spurgeführten Landverkehr revolutionieren wollte, spricht niemand mehr.

2. Revolution der Mobilität

Die durchschnittliche Geschwindigkeit eines Landtransportes betrug seit der Domestizierung des Pferdes Jahrhunderte lang 15 km/h, mit Pferdewechsel 8 km/h. Im Vergleich dazu, war der Zug zwischen Nürnberg und Fürth eine Revolution.

Heinrich Heine beschrieb den «schauerlichen Reiz» des neuen Transportmittels:

«... ein unheimliches Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheure geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind. ... Die Eisenbahnen sind wieder solch ein providentielles Ereignis, das der Menschheit einen neuen Umschwung gibt, das Farbe und Gestalt des Lebens verändert; es beginnt ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte. ... Sogar die Elementarbegriffe von Raum und Zeit sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt nur noch die Zeit übrig.»

Die Eisenbahn war ein Produkt der sich zur selben Zeit ausbreitenden Industrialisierung und wurde gleichzeitig zum Motor der Industrialisierung, weil sie die Transportkosten radikal senkte. Sie entwickelte sich rasant. 1850 betrug die Länge der weltweiten Bahnnetze bereits 39000 Kilometer, 14 000 in den USA, 10 700 in Großbritannien, 6000 in Deutschland, 3000 in Frankreich und 25 Kilometer in der Schweiz.

Eisenbahn und Industrialisierung veränderten Landschaft und Städte fundamental.

Bahnhöfe wurden als Kathedralen des Industriezeitalters in die Zentren der Städte gebaut. Dafür mussten Stadtmauern und Schanzen abgetragen werden.

3. Flickenteppiche

Der deutsche Ökonom Friedrich List hat es schon in den 1830er Jahren erkannt:

«Der wohlfeile, schnelle und regelmässige Transport von Personen und Gütern ist zu einem der mächtigsten Hebel des Nationalwohlstandes der Zivilisation. geworden.»

Für seine Idee eines Hauptstreckennetzes für ganz Deutschland war die Zeit aber noch nicht reif. Die deutschen Teilstaaten verfolgten Eigeninteressen und versuchten sogar aktiv, grossräumige Eisenbahnpläne zu verhindern.

In der Schweiz erarbeitete der englische Ingenieur Robert Stephenson im Auftrag des eben eingesetzten Schweizerischen Bundesrates einen Plan für ein schweizerisches Eisenbahnnetz.

Eine der ersten Fragen, über welche im Eidgenössischen Parlament erbittert gestritten wurde, war die Ordnung des schweizerischen Eisenbahnwesens. Zentralstaatlich oder föderal? Staatlicher Betrieb oder private Bahngesellschaften? Der Föderalismus setzte sich gegen den Zentralstaat durch. Der Zürcher Unternehmer und Nationalrat Alfred Escher setzte sich mit seiner Privatisierungsplänen gegen seinen bernischen Kontrahenten Jakob Stämpfli durch.

Im ersten Eisenbahngesetz von 1852 erhielten die Kantone die Kompetenz, Konzessionen zu erteilen. Immerhin mussten diese vom Bund genehmigt werden.

Auch in der Schweiz ab spielten sich erbitterte Kämpfe um Linienführungen ab. Der Höhepunkt dieser Entwicklung ereignete sich 1875 mit der Gründung der Schweizerischen Nationalbahn SNB. Ziel dieser von der Demokratischen Partei Winterthur initiierten Bahn war der Bau einer «Volksbahn» auf der direkten Linie vom Bodensee zum Genfersee, die dem Gemeinwohl dienen sollte und sich scharf von den bestehenden «Herrenbahnen» abgrenzte. Bereits 1878 war die SNB nicht mehr in der Lage, die Obligationszinsen zu bezahlen und das Bundesgericht verordnete die Zwangsliquidation. Die Gründerstädte Winterthur, Baden, Lenzburg und Zofingen stotterten ihre Schulden über Jahrzehnte ab. Die letzte Rate wurde 1952 bezahlt.

Die Folge dieser Kleinstaaterei waren Tarifwirrwar, nicht abgestimmte Fahrpläne, technische Inkompatibilitäten, unterschiedliche Wagentypen, unterschiedliche Betriebskonzepte, insbesondere aber ein Eisenbahnnetz, das nie aus einer gesamtheitlichen Optik geplant wurde.

4. Die Bedeutung von Infrastrukturen

Die Römer haben erstmals systematisch Infrastrukturen aufgebaut: Strassen, Wasserversorgung, Häfen.

Aus dieser historischen Erfahrung wuchsen drei Erkenntnisse:

  1. Der Wohlstand eines Staates beruht auf einer angemessenen Infrastruktur.
  2. Infrastrukturen haben Netzcharakter.
  3. Die Kosten der Errichtung und Erhaltung von Infrastrukturen sind hoch und sie übersteigen oft die Mittel privater Investoren.

Zur Verkehrsinfrastruktur:

Das Straßennetz ist viel dichter als das Bahnnetz. In Deutschland beträgt es rund 800’000 km, das Bahnnetz 33'000 km, in Österreich 125’000 km gegen 5'600 km und in der Schweiz 85'000 km gegen 5'100 m.

Das Verhältnis Straßen- zu Schienennetz beträgt in Deutschland 24:1, in Österreich 22:1 und in der Schweiz 17:1.

In der Schweiz entfallen 19 Prozent aller gefahrenen Personenkilometer auf die Bahn, in Österreich 13 Prozent und in Deutschland knapp 9 Prozent (alle Werte aus dem Vor- Coronajahr 2019).

Deutschland und Österreich sind demnach Autoländer, die Schweiz ist ein Bahnland.

Diese Bahnanteile erscheinen bescheiden. Legt man allerdings die Personenkilometer auf den Kilometer Streckenlänge um, zeigt sich, dass pro Schienenkilometer viel mehr Menschen bewegt werden als pro Strassenkilometer.

Das weist auf eine der wichtigsten Kenngrössen im Verkehr hin: der Durchsatz. Dieser Begriff aus der Physik bezeichnet die Menge an «Stoff», die maximal durch einen definierten Querschnitt fliessen kann.

Bezogen auf die Verkehrsfläche ist der Unterschied noch grösser, nicht zuletzt, weil der ruhende Strassenverkehr sehr flächenintensiv ist. Das Mass für den Flächenverbrauch eines Verkehrsmittels und damit eine zweite wichtige Kenngrösse ist die Flächeneffizienz.

Der Staat hat für die Bewahrung der Substanz der bestehenden Verkehrsinfrastrukturen und ihre Anpassung an kommende Bedürfnisse zu sorgen. Dafür gelten folgende Prämissen:

Die horrenden Kosten des Aufbaus neuer Netze ist der Grund, warum sich keine der jahrzehntelang entwickelten neuen Technologien im spurgeführten Verehr durchgesetzt hat.

5. Die Entdeckung der Grundversorgung

Zu den Mängeln des Flickenteppichs gesellten sich im späten 19. Jh. zwei zusätzliche Probleme:

Erstens wurde das Gefälle zwischen den erschlossenen und an die grosse Welt angeschlossenen Gebieten und dem nicht erschlossenen Land immer grösser. Deshalb wurde 1872 das Eidgenössische Eisenbahngesetz revidiert und die Kompetenz, Konzessionen zu erteilen, dem Bund übertragen.

Zweitens fanden sich immer mehr private Bahnen in ernsthaften wirtschaftlichen Schwierigkeiten.

Mittlerweile waren aber die Angebote der Eisenbahn für das Funktionieren eines Landes unverzichtbar geworden. Die Politik konnte private Bahnen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht mehr dem Fallbeil des freien Marktes überlassen. Das Vokabular wurde um den Begriff «Grundversorgung» erweitert.

Der Staat, der sich bis anhin auf die Gewährung von Konzessionen beschränkt hatte, wurde zum Eingreifen gezwungen.

1898 stimmte das Schweizer Volk mit 2/3 Ja-Stimmen der Verstaatlichung der fünf Hauptbahnen zu. 1902 nahmen die Schweizerischen Bundesbahnen SBB als «Anstalt des Bundes» ihren Betrieb auf.

Damit war die Eisenbahn ein öffentlicher Dienst geworden.

6. Der Siegeszug des Automobils

1906 exponierte sich die Allgemeine Deutsche Automobil-Zeitung mit einer gewagten Prognose: «Das Auto, es will dem Menschen die Herrschaft über Raum und Zeit erobern.»

Das Auto wurde zum magischen Objekt des 20. Jahrhunderts und das 20.Jahrhundert zum Jahrhundert des Autos. Der Raum verändert sich von Grund auf: Strassen, Autobahnen, Ampeln, Parkplätze, Tankstellen und an der Peripherie gelegene Einkaufszentren. Mit dem Auto begann die Zersiedelung der Landschaft. Für die Städte wurde die «autogerechte Stadt» zum Leitbild.

Der Autobahnbau bewirkte eine sprunghafte Steigerung der Produktivität des Lastkraftverkehrs. Bei einigen Bahnen wurde damit die tragende Säule ihres Geschäftsmodells zerschlagen.

1973 betrug der Umsatz des Güterverkehrs der SBB 1'258 Millionen Franken - im Personenverkehr waren es 722 Millionen Franken. Nach der ersten Rezession der Nachkriegszeit - ausgelöst durch den Erdölschock im Herbst 1973 - verlor die SBB innert zwei Jahren einen Viertel ihres Güterverkehrs. Heute ist der Personenverkehrsertrag fünfmal höher als jener des Güterverkehrs.

7. Japan setzt auf die Bahn

In den 1950er-Jahren begann die Wirtschaft zu boomen. Auto und Flugzeug waren die Transportmittel der Zukunft. Die Eisenbahn stand für die Vergangenheit. Szenarien wie in den USA, wo die Bahn im Personenverkehr praktisch verschwand, schienen nicht ausgeschlossen.

In Europa wurden Schienen abgebaut. Vor dem Ersten Weltkrieg umfasste das Netz der Französischen Staatsbahn 70'000 km, heute sind es noch 29'600, obwohl das Netz seit 1981 um 2600 km für den Hochgeschwindigkeitsverkehr ausgebaut wurde.

Die rund 500 Kilometer lange Strecke zwischen Tokio und Osaka ist die am stärksten frequentierte Verbindung der Welt. Keines der bestehenden Verkehrsmittel - eine Schmalspurbahn, das Auto oder der Flugverkehr - war in der Lage, das enorme Verkehrswachstum zu bewältigen. Gefragt war das Verkehrsmittel mit dem höchsten Durchsatz.

Bereits in den 1930er-Jahren plante man eine neue Normalspurbahn. Anfang der 1950er-Jahre wurden die alten Pläne reaktiviert. Nun wollte man aber keine konventionelle Bahn mehr bauen, sondern wagte den Schritt ins Neuland der hohen Geschwindigkeit.

Diese Entscheidung, in ein scheinbar überlebtes System zu investieren und gleich noch seine bisherigen Grenzen zu sprengen, war außerordentlich mutig und für viele Bahnen ein Zeichen zum Aufbruch.

1958 wurde das Projekt genehmigt, 1959 begonnen und pünktlich zu Beginn der Olympischen Sommerspiele 1964 in Tokio dem Betrieb übergeben – eine sowohl technisch wie zeitlich überragende Leistung. Bereits 1976 wurde der milliardste Passagier befördert. Die Shinkansen-Züge sind zum Symbol für Zuverlässigkeit und Sicherheit geworden.

Das japanische Erfolgsmodell wurde in Europa und Asien kopiert. Vorreiter war Frankreich, das seine erste TGV- Strecke zwischen Paris und Lyon 1981 in Betrieb nahm und seither ein dichtes Hochgeschwindigkeitsnetz aufgebaut hat. Mittlerweile hält ein TGV mit 574,79 km/h den Geschwindigkeitsrekord für die klassische Eisenbahn.

8. Von der Depression zum Waldsterben

1970 war die SBB die letzte Bahn Europas, die einen Gewinn auswies - ohne einen Franken Subvention. Ab 1971 wurden Fehlbeträge ausgewiesen - anfangs noch im tiefen zweistelligen Bereich - obwohl ab diesem Jahr die Fehlbeträge des regionalen Personenverkehrs abgegolten wurden.

1975, zwei Jahre nach dem Erdölschock, betrug der Verlust der SBB 688 Millionen Franken. 1981 wurde mit 720 Millionen Franken das höchste Defizit in der Geschichte ausgewiesen. Bis 1986 türmten sich insgesamt 6’889 Millionen Franken an Defizit auf. In der Politik und der SBB herrschten Ratlosigkeit.

Die Wende kam mit der Angst vor dem Waldsterben.

1985 traf sich die Eidgenössischen Parlament unter diesem Titel zu einer Sondersession. Ein zentrales Thema waren Verbesserungen im öffentlichen Verkehr. Das Parlament genehmigte einen Antrag, das Halbtaxabonnement auf 100 Franken zu verbilligen - inklusive einer Abgeltung für die erwarteten Einnahmenausfälle. Die SBB wurde ausserdem beauftragt, das angedachte Konzept Bahn 2000 für einen massiven Angebotsausbau zur Entscheidungsreife zu bringen.

Das Halbtax-Abo für 100 Franken wurde 1987 eingeführt. Im Jahr seiner Einführung stieg der Verkehr um 17 Prozent - der grösste Sprung in der Geschichte des Personenverkehrs der SBB. Die Subvention wurden gleich wieder gestrichen. Nach zwei Jahren waren Zwei Millionen Abos im Umlauf.

Das Konzept Bahn 2000 wurde im Rekordtempo durch die Eidgenössischen Räte gejagt. Im Dezember 1987 stimmte das Schweizer Volk dem Vorhaben zu. Am 12. Dezember 2004 wurde der Fahrplan Bahn 2000 in Betrieb genommen.

Es ist eine besondere Ironie der Geschichte, dass das Waldsterben, ein Ereignis, das sich in der Rückschau doch eher als Fehleinschätzung erwiesen hat, in der Schweiz der Startschuss für die Renaissance der Bahn war.

Aber das Zeitalter der jährlichen Defizite war noch nicht beendet. Am 13. März 1994 eröffnete Anton Schaller sein Fernseh-Interview mit dem neuen Verwaltungsratspräsidenten der SBB, Jules Kyburz, mit der Aussage: «Die SBB waren einmal ein stolzes Unternehmen und sind jetzt in tiefroten Zahlen.» Das Logo der SBB hatte in diesen Zeiten den zweifelhaften Übernamen «Pleitegeier».

9. Das McKinsey Modell

Anfang der 1990er-Jahre untersuchte McKinsey im Auftrag des Eidgenössischen Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartements, unter welchen Bedingungen ein Bahnunternehmen in der Schweiz selbsttragend operieren könnte. Die Berater entwickelten auf der Basis bestehender Ertrags- und Kostenstrukturen ein Modell, das schrittweise ein Netz aufbaute, ausgehend von der ertragsstärksten Verbindung Bern - Zürich.

Es zeigte sich, dass auf dieser Linie Verluste entstehen, weil die Erträge der Zubringerstrecken noch fehlten. Man fügte weitere Strecken hinzu, immer strikt profitorientiert. Mit jeder Ergänzung wuchsen die zusätzlichen Kosten stärker als die zusätzlichen Einnahmen. Es war die perfekte Demonstration des Gesetzes des abnehmenden Grenznutzens.

Das ernüchternde Fazit: Ein sich selbst tragendes Bahnsystem ist unter den gegebenen Bedingungen eine Illusion.

10. Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung

Als 1989 die realsozialistischen Systeme kollabierten, war nicht mehr die soziale Marktwirtschaft gefragt, sondern eine Marktwirtschaft ohne Adjektive. Ihr Dreiklang: Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung.

Das war auch die Devise der EU, die ihren Fokus auf die traditionellen staatlichen oder staatsnahen Infrastruktur- und Grundversorgungsunternehmen richtete: Luftfahrt, Eisenbahn, Telekommunikation, Post, Energie.

Die Idee: Der Wettbewerb sorgt für die optimale Allokation von Kapital und für niedrige Preise.

In der Folge zeigte sich, dass jeder dieser Bereiche aufgrund seiner Besonderheiten spezifische Lösungen erforderte.

Die Eisenbahn stellte unter den anvisierten Bereichen einen Sonderfall dar, weil - wie das McKinsy-Modell gezeigt hat - nicht davon ausgegangen werden konnte, dass Eisenbahnunternehmen je in der Lage sein würden, ihre Leistungen auf einem freien Markt gewinnbringend abzusetzen.

1991 verabschiedete der Rat der Europäischen Gemeinschaften die Richtlinie 91/440 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft.

Ihr Kern bestand aus vier Maßnahmen:

  1. Die Unabhängigkeit der Geschäftsführung der Eisenbahnunternehmen;
  2. Die finanzielle Sanierung der Eisenbahnunternehmen;
  3. Die Trennung zwischen der Erbringung der Verkehrsleistungen und dem Betrieb der Infrastruktur;
  4. Zugangsrechte zu den Eisenbahnnetzen der Mitgliedstaaten für internationale Gruppierungen von Eisenbahnunternehmen sowie Eisenbahnunternehmen, die Verkehrsleistungen im grenzüberschreitenden kombinierten Güterverkehr erbringen.

Die beiden ersten Maßnahmen wurden am rasch umgesetzt. In der Schweiz mit einer von den Eidgenössischen Räten 1998 verabschiedeten Bahnreform. Von großer Bedeutung war insbesondere die finanzielle Sanierung, die den Bahnunternehmen die Manövrierfähigkeit zurückgegeben hat.

Um den Wettbewerb zu fördern, schlug die EU-Kommission die Verselbstständigung der Infrastruktur vor. Die Infrastrukturgesellschaft (bestehend aus Gleiskörper, Energiesystem, Betriebssteuerung und Bahnhöfen) teilt den unabhängigen Eisenbahnverkehrsunternehmen Fahrplantrassen zu, für deren Benutzung ein Entgelt zu bezahlen ist.

Dieses Entgelt soll die direkten Kosten der Benutzung einer Fahrplantrasse entgelten, also die Kosten, die bei der Fahrt eines Zuges entstehen. Die Differenz zwischen den direkten Kosten und den Vollkosten wird vom Staat bezahlt.

Die Eisenbahnverkehrs-Unternehmen (EVU) werden in zwei Kategorien unterteilt. Die sogenannten eigenwirtschaftlichen Verkehre - der Personenfern- und Güterverkehr - müssen sämtliche Kosten, inklusive die Trassenbenutzungsgebühr, decken.

Der regionale Personenverkehr wird von der öffentlichen Hand bestellt, die ungedeckten Kosten werden abgegolten (als sogenannte gemeinwirtschaftliche Leistungen, Public Service Obligations, PSO’s).

In den eigenwirtschaftlichen Bereichen soll der Wettbewerb zwischen den Verkehrsunternehmen nach dem Prinzip des «open access», des freien Zugangs zur Infrastruktur, ermöglicht werden. Dieser wird reguliert und hat diskriminierungsfrei zu erfolgen. Im Bereich der PSO haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, längerfristige Beförderungsaufträge mittels Ausschreibungsverfahren zu vergeben.

Dieses Modell hat in der praktischen Anwendung zwei Schwachstellen:

1) Es trägt den technischen Gegebenheiten des Bahnsystems nicht Rechnung. Nicht umsonst spricht man vom Rad-Schienen-System. Die Entwicklungsgeschichte der Eisenbahn ist durch die simultane Innovation von Rädern der Schienenfahrzeuge (vom Material über das Profil über die Achsführung) und der Schiene (vom Material über das Profil) geprägt. Die Sicherheitssysteme müssen zwingend zwischen Fahrbahn und Fahrzeug abgestimmt werden. Dasselbe gilt für den Fahrplan, das Bindeglied zwischen dem Zugangebot und den technischen Möglichkeiten der Infrastruktur. Störungen des Bahnbetriebs treten häufig im Verbund von Infrastruktur und Fahrzeug auf und müssen auch im Verbund bewältigt werden.

Wenn man dieses so eng verzahnte System auseinanderreisst und in autonome Teilsysteme gliedert, führt das zu kostspieliger Doppelspurigkeit und hohen Transferzahlungen. Vor allem: Wenn jedes Teilsystem sein eigenes Optimum sucht, wird das Gesamtsystems desoptimiert.

2) Das Konstrukt führt dazu, dass der Wettbewerb im Bahnsystem eine arbiträre Komponente enthält. Die Krux ist die Benutzungsgebühr für die Infrastruktur. Die direkten Kosten für die Benutzung der Schienen durch einen Zug können nicht exakt beziffert werden. Sie fallen unter anderem als Unterhaltskosten an und müssen den einzelnen Leistungen aufgrund eines Schlüssels zugeteilt werden.

Als Schlüssel wird meist das Gewicht des Zugs vorgegeben. Mit ebenso viel Berechtigung könnte man dafür die Zeit ansetzen, die ein Zug die Infrastruktur beansprucht (je langsamer ein Zug fährt oder je mehr Haltpunkte er bedient, desto mehr beansprucht er die Gleiskapazität). Mit dem Gewicht als Schlüssel wird der Güterverkehr stärker belastet, mit der beanspruchten Zeit als Schlüssel der regionale Personenverkehr.

Die Eigenwirtschaftlichkeit einer EVU ist somit relativ. Sie hängt erstens von der Ausgestaltung der Infrastruktur-Benutzungsgebühr ab, und zweitens darf man nicht vergessen, dass auch diese Verkehre nicht die vollen Kosten der Infrastruktur bezahlen.

Nun wird in der EU selten etwas so heiß gegessen, wie es gekocht wurde. Bereits in der Richtlinie 91/440 findet sich ein Kompromiss hinsichtlich der Trennung der Erbringung von Verkehrsleistungen und des Betriebs der Eisenbahninfrastruktur. Vorgegeben wird nur, dass «beide Bereiche in jedem Fall ein getrenntes Rechnungswesen erhalten und getrennt verwaltet werden».

Bis heute konnte die Kommission ihre Idee der harten Trennung nie integral durchsetzen. Die großen mitteleuropäischen Bahnen mit ihren komplexen und hoch ausgelasteten Netzen sind noch immer überwiegend als Holding-Unternehmen unter einem Dach organisiert.

Der «open access» ist für den Güterverkehr der Bahnen zum Normalfall geworden. Neben den großen Staatsbahnen sind hier auch viele kleinere, private Unternehmen tätig, vorwiegend in Nischenmärkten.

Der grenzüberschreitende Personenfernverkehr der EU ist ebenfalls liberalisiert - nicht aber in der Schweiz. In einigen EU-Staaten gilt der freie Netzzugang auch im nationalen Fernverkehr.

Summa summarum war den Bemühungen der EU, den Bahnmarkt durch liberale Rezepte zu dynamisieren, nur bescheidener Erfolg beschieden. Auch dort, wo der Wettbewerb am intensivsten ist - im Güterverkehr - haben sich die Marktanteile der Bahn verschlechtert.

Völlig verfehlt hat die EU das Ziel der Interoperabilität der Europäischen Eisenbahnen - der Flickenteppich länderspezifischer Normen und Systeme hat sich nicht verringert, im Gegenteil - mit entsprechenden Kostenfolgen.

11. Strukturen und Angebote

Die Siedlungsstruktur eines Raums und seine Topografie bestimmen den Charakter der Netze von Strassen und Schienen. Entscheidende Parameter sind die Grösse der Ballungsräume, ihre Anordnung und Entfernungen. Grundsätzlich kann man vier Strukturtypen unterscheiden:

Der optimale Einsatz der Eisenbahn und die dazu notwendige Infrastruktur hangen von dieser Struktur ab.

Hochgeschwindigkeitszüge verbinden große Ballungsräume in genügend grosser Entfernung. Lineare, sternförmige und T-förmige Strukturen bieten dafür die besten Voraussetzungen. Deshalb hat sich die Hochgeschwindigkeitsbahn zunächst in Japan, dann in Frankreich, Italien und Spanien durchgesetzt.

Bahn-Hochgeschwindigkeitsstrecken (für Geschwindigkeiten um 300 km/Std) sind enorm teuer - in Spanien zum Beispiel bestehen sie zu einem guten Teil aus Kunstbauten und Tunnels - und sie können nur von einer einzigen Zugskategorie benutzt werden, was die Möglichkeit ihrer Auslastung begrenzt. Es braucht sehr starke Personenverkehrsströme, um Hochgeschwindigkeits-züge wirtschaftlich zu betreiben.

Deutschland mit einer eng vermaschten Struktur und vielen Ballungszentren auf engstem Raum, hat schlechte Voraussetzungen für den Hochgeschwindigkeitsverkehr.

In der Schweiz sind die Distanzen für hohe Geschwindigkeiten zu kurz, die Ballungszentren zu klein und in ihrer geografischen Beziehung zueinander zu komplex.

Interessant ist, dass Flixtrain, ein Newcomer im Bahngeschäft, der den europäischen Fernreisemarkt wie wenige kennt, unter «Hochgeschwindigkeit» Strecken für 200 maximal km/h versteht. So definiert, können wir auch in der Schweiz über Hochgeschwindigkeitsverkehr sprechen.

Für jeden Strukturtyp braucht es eine Grundidee für ein optimales Bahnangebot.

1982 führten die SBB auf dem ganzen Netz den Stundentakt ein. Mit einem Stundentakt wird der Produktionsplan für einen Tag durch einen sich ständig wiederholenden Produktionsplan für eine Stunde ersetzt. Vorteile des Taktfahrplans sind die hohe Produktivität des Rollmaterials, eine einfachere Struktur des Produktionsplans und ein einfach merkbares Angebot. Sein Nachteil: Ein schlechter Anschluss bleibt über den ganzen Tag hinweg ein schlechter Anschluss.

Das kann verbessert werden, wenn der Takt auf eine halbe Stunde verdichtet wird und sich die Züge in den Netzknoten kreuzen. Das ist dann der Fall, wenn die Fahrzeiten zwischen diesen Knoten etwas unter einer halben Stunde oder ein Vielfaches davon betragen. Der Halbstundentakt hat einen weiteren Vorteil: Die Zugsläufe können alterniert werden. Zum Beispiel in der vollen Stunde Brig -Bern - Zürich - Romanshorn, in der halben Stunde Genf -Bern -Zürich - St. Gallen.

Diese Erkenntnis war die Grundidee für das Konzept «Bahn 2000» - ihr Slogan: häufiger - direkter - schneller. Ziel war ein Produktionsplan, der die Summe aller Reisezeiten minimiert. Auf dieser Grundlage wurden die dafür notwendigen Ausbauinvestitionen festgelegt.

Ein solches Vorgehen war in der Bahnwelt eine Innovation. Bislang war der Ausbau des Bahnangebotes eine Funktion von Investitionen in die Bahninfrastruktur. Diese Gleichung wurde nun umgekehrt - die Ausbau-Investitionen wurden zur Funktion des neuen Angebotskonzeptes.

Um die notwendigen Fahrzeiten zu erreichen, wurden 135 Bauprojekte auf dem ganzen Netz, darunter eine Neubaustrecke, realisiert. Die Gesamtinvestition betrug rund 6 Milliarden Franken.

Seit der Inbetriebnahme von Bahn 2000 gilt in der Schweiz: von Überall nach Überall, jede Stunde, in vielen Relationen jede halbe Stunde (oft auch mit Busverbindungen). Erst damit ist der öffentliche Verkehr im ganzen Land zu einer echten Alternative geworden.

Eine derartige Grundversorgung ist allerdings eine teure Angelegenheit und daher nur in kleinräumigen Verhältnissen realisierbar.

Bereits 1960 ist im Geschäftsbericht der SBB die Forderung nach einem Gotthard- Basistunnel erhoben worden. Lange Jahre wurden mit der Diskussion über Linienführungen verloren. Nachdem 1980 der Gotthard-Strassentunnel in Betrieb gegangen war, wurde der Nachteil einer bald hundertjährigen Infrastruktur besonders im Güterverkehr noch offensichtlicher. Auch in Frankreich, Italien, Österreich und Deutschland stand der Bau von Basistunneln auf der Tagesordnung.

1989 verpflichteten sich die Verkehrsminister der Alpenländer, alles zu unternehmen, damit der Zuwachs des alpenquerenden Güterverkehrs nur noch auf der Schiene erfolgt.

1992 stimmte das Schweizer Volk dem Bau von drei Basistunnel zu - Lötschberg, Gotthard und Ceneri.

Der Lötschberg-Basistunnel ist seit 2007 in Betrieb, der Gotthard-Basistunnel seit 2016, der Ceneri-Basistunnel seit 2020. Deutschland, Österreich und Italien haben 2008 mit dem Bau der neuen Basislinie unter dem Brenner begonnen. Die Inbetriebnahme soll 2032 erfolgen. Ebenfalls 2032 soll der neue Mont-Cenis-Tunnel zwischen Frankreich und Italien eröffnet werden.

2022 wurden 74 % des alpenquerenden Verkehrs durch die Schweiz mit der Bahn befördert. Im gesamten Alpenraum beträgt der Anteil der Schiene noch 32%.

Die schweizerische Bahnpolitik im Bereich des Transitverkehrs ist eine Erfolgsgeschichte, die nun allerdings zu kippen droht. 2023 waren über ein Drittel der Güterzüge über drei Stunden verspätet. Jeder sechste Zug hatte über 12 Stunden Verspätung. Über zehn Prozent der Züge fielen ganz aus. Hauptgrund für diese besorgniserregende Entwicklung sind die Betriebsprobleme der Deutschen Bahn. 2023 ist der Bahnanteil des schweizerischen alpenquerenden Verkehrs um zwei Prozentpunkte auf 72 Prozent gesunken. Die Perspektiven sind angesichts der geplanten «Generalsanierungen» auf dem deutschen Netz düster.

12. Über den Zustand der Bahnen in Europa

Das entscheidende Qualitätsmerkmal für eine Bahn ist die Pünktlichkeit der Züge. Nicht nur aus Kundensicht - eine Bahn, die «auf dem Strich fährt», das heisst ihren Produktionsplan strikte einhält, minimiert damit auch ihre Kosten.

Bezüglich der Qualität der Leistungserbringung sind die länderspezifischen Entwicklungen unterschiedlich. Es gibt Bahnen, die sind gut unterwegs, andere sind besser geworden - zum Beispiel Italien und Österreich, und wieder andere wie die DB haben ernsthafte Probleme. In ihrem Geschäftsbericht 2023 weist die DB eine Pünktlichkeit von 64 Prozent aus - wobei Pünktlichkeit bei der DB weniger als sechs Minuten Verspätung» bedeutet.

Im Magazin von «Pro Bahn Schweiz» habe ich Ende Dezember folgendes gelesen: «In keinem Bereich des öffentlichen Verkehrs ist die Kluft zwischen den vollmundigen Ankündigungen und der Realität so gross wie beim internationalen Fernverkehr und Besserung ist nicht in Sicht.»

Dem ist nichts beizufügen. Besonders ärgerlich ist dieser Befund, weil gerade hier ein grosses und wachsendes Potenzial brachliegt.

13. Über den Zustand der Bahnen in der Schweiz

«Auf was kann sich die Schweiz heute noch einigen? So richtig? Auf die ETH vielleicht. Die direkte Demokratie. Rivella und die SBB (solange sie gopferdammi pünktlich ist.»

War unlängst im «Magazin» zu lesen. 92,5 Prozent der Zugsankünfte innerhalb von 3 Minuten haben die SBB für das Jahr 2023 vermeldet - eine hervorragende Pünktlichkeit.

Trotzdem sieht die Zukunft düster aus. Wegen eins typisch schweizerischen Problems: Wir haben zu viel Geld. Entgegen den alten Tugenden wurde die Ziel/Mittel - Hierarchie wieder umgekehrt: Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung des Bahnsystems sind nicht mehr Angebotskonzepte, sondern Ausbauten der Infrastruktur. Der Fonds für Bahnprojekte hat zu einem zügellosen Wunschkonzert geführt: Nicht neue Angebote werden gefordert, sondern Grossinvestitionen - whatever it takes.

Im Jahr 2012 wurden die politisch relevanten Mobilitätsbedürfnisse für das Jahr 2030 festgelegt. Die daraus resultierenden Angebotsziele führten zum Ausbauprogramm AS 2035, das aber nicht mit einem Angebotskonzept unterlegt und ausserdem verspätet ist.

Diese Entwicklung widerspricht nicht nur den alten Tugenden, sondern auch dem Gesetz. Im Abschnitt über den Ausbau der Infrastruktur nennt das Eisenbahngesetz in Art. 48a die Ziele: 1) Verbesserung der Verbindungen mit europäischen Metropolitansräumen; 2) Verbesserung der Verbindungen zwischen den schweizerischen Metropolitansräumen und innerhalb derselben; 3) Verbesserung der Verbindungen im schweizerischen Städtenetz; 4) Ausbau des Regional- und Agglomerationsverkehrs. «Ausbau» bezieht sich hier nicht auf die Infrastruktur, sondern das Verkehrsangebot.

Art. 48c verlangt: «Den in den Ausbauschritten vorgesehenen Massnahmen liegen ein Bedarfsnachweis und ein betriebs- und volkswirtschaftlich abgestütztes Angebotskonzept zugrunde.»

Das aktuelle Vorgehen bei der Planung und der politischen Entscheidfindung für die nächsten Ausbauschritte widerspricht diesen Vorgaben (und damit dem Gesetz) in eklatantem Masse.

Der konzeptlose Fokus auf Ausbau-Investitionen hat fatale und bereits deutlich sichtbare Auswirkungen:

Die Leistungen der öffentlichen Hand, die von Bund und Kantonen an die SBB transferiert wurden, betrugen 2006 1'842,7 Millionen CHF. Im vergangenen Jahr waren es 4'040,2 Millionen CHF - eine jährliche Zunahme von 5 Prozent - auch bedingt durch die Folgekosten der Investitionen in Bahn 2000 und die NEAT. Zurzeit sind Investitionen im Umfang von 23 Milliarden bewilligt und finanziert. Folgekosten: 1,61 Milliarden Franken - pro Jahr. Weitere Investitionsvorhaben im Umfang von über 20 Milliarden Franken sollen 2026 gesprochen werden. Folgekosten: 1,4 Milliarden Franken - pro Jahr.

Dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens sind wir schon beim Mac Kinsey-Modell begegnet. Für Bahn 2000 wurden seinerzeit 6 Milliarden Franken investiert. Selbst wenn man die Bauteuerung grosszügig einrechnet, zeigt sich, in welchem Mass man vom Pfad der Tugend abgekommen ist. Angesichts der Finanzlage des Bundes ist absehbar, dass in naher Zukunft nicht mehr die Finanzierung gigantischer Ausbauvorhaben im Vordergrund stehen wird, sondern die Finanzierbarkeit des Bahnsystems in der Schweiz.

Wir sind auf dem besten Weg, uns die Zukunft buchstäblich zuzubetonieren. Damit einher geht die Vernachlässigung der Möglichkeiten, das bestehende System besser zu nutzen und auch das hat fatale Folgen.

Wenn nicht Gegensteuer gegeben wird, und zwar sehr rasch, wird das Bahnsystem Schweiz mit seinen heutigen Qualitäten ernsthaft gefährdet.

14. Logik einer Mobilitätswende

Mobilität ist Freiheit; Mobilität ist Wohlstand. Und Mobilität wird mit grösster Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft wachsen. Dabei stellen sich zwei Herausforderungen:

  1. Die Schweiz hat sich zusammen mit 197 Ländern im Rahmen des Pariser Klimaabkommen verpflichtet, das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 with the highest possible ambition anzustreben. Der Verkehr verursacht weltweit etwa ein Viertel des gesamten CO2-Ausstoßes. In den Industrieländern ist dieser Anteil noch höher (in der Schweiz liegt er über 30 Prozent). «Kein Bereich hat grösseren Aufholbedarf beim Klimaschutz als der Verkehr.»
  2. Auch in Zukunft sollen sich Menschen und Güter mit vertretbarem zeitlichem und finanziellem Aufwand von A nach B bewegen können.

Die zweite Herausforderung ist ein physikalisches Problem: Wie bringt man möglichst viel Volumen durch die vorhandenen Querschnitte.

Die beiden in diesem Zusammenhang entscheidenden Kriterien sind der Durchsatz und die Flächeneffizienz. Das heisst, dass die Verkehrsmittel gemäss ihren Stärken eingesetzt werden müssen. Ist das der Fall, spricht man vom Wesensgerechten Verkehr.

Die Ausgangslage ist durch zwei Faktoren geprägt:

  1. Wir verfügen über hervorragende Strassen- und Bahnnetze. Im Durchschnitt sind diese Netze mässig ausgelastet.
  2. Netzausbauten in grossem Stil brauchen von der Idee bis zur Inbetriebnahme mindestens 25 Jahre - Tendenz steigend. Als griffige Massnahmen gegen den Klimawandel kommen sie zu spät.

Daraus folgt: Mit oberster Priorität müssen die bestehenden Netze besser ausgelastet werden.

15. Erste Priorität: aktuelle Mobilitätsbedürfnisse erfüllen

Um heutige Mobilitätsbedürfnisse zu befriedigen und den Marktanteil des öffentlichen Verkehrs zu erhöhen, müssen wir rasch neue Angebote schaffen. So lassen sich z.B. Überlasten wie jene Zürich – Winterthur vermeiden.

Die Möglichkeiten, bestehende Bahnnetze besser zu nutzen, sind erstaunlich vielfältig.

Der zentrale Hebel dazu sind die Produktionspläne: Harmonisierung der Geschwindigkeiten durch neue Haltepolitik und Sortierung der Züge nach Geschwindigkeit; alternative Zugläufe.

Ein zweiter Ansatzpunkt ist das Rollmaterial. Entscheidende Faktoren sind: möglichst viele Sitzplätze; optimal konfigurierte Eingangsbereiche, welche den Fahrgastwechsel beschleunigen; Türsysteme, die möglichst rasch öffnen und schliessen; zeitsparende Abfertigungsoperationen; gutes Beschleunigungs- und Bremsverhalten; Unterstützung der Lokführer durch ATO-Systeme (Automatic Train Operation).

Der dritte Ansatzpunkt ist die Infrastruktur. Durch eine Optimierung der Gleislayouts kann viel Kapazität gewonnen werden, insbesondere in den Bahnhöfen. Dabei geht es primär darum, Konflikte zu vermeiden und schnellere Ein- und Ausfahrten zu ermöglichen. Wie gross dieses Potential ist, zeigt sich am Beispiel des Bahnhofs Utrecht Centraal, dem grössten Bahnhof der Niederlande. Der Bahnhof wurde für 270 Millionen Euro umgebaut, um die 'spaghetti van sporen' zu entwirren. Die Zahl der Weichen reduzierte sich von etwa 200 auf 60, die Einfahrtgeschwindigkeit wurde von 40 auf 80 km/h angehoben. Heute können stündlich mehr als 100 Abfahrten (vorher etwa 50) abgefertigt werden. Der jährliche Unterhaltsaufwand wurde um 2 Millionen Euro reduziert.

Ein grosses Potential liegt schliesslich in der Digitalisierung der Zugssteuerung. In einem Bericht zum geplanten digitalen Knoten in Stuttgart ist folgendes festgehalten: «Im Zusammenwirken vieler Optimierungen werden rund 35 % kürzere Zugfolgen erreicht - mit Potential für mehr.» Der Schritt ins digitale Zeitalter ist für jede Bahn ein Muss, und er wird investitionsintensiv sein. Ein Grund mehr, sich beim Ausbau zurückzuhalten.

Das heisst nicht, dass auf jeglichen Ausbau verzichtet wird. Aber zurück zu den alten Tugenden: die Kunst ist, mit möglichst geringen Investitionen eine möglichst grosse Netzwirkung zu erzielen.

Wir konnten anhand detaillierter Fahrplanstudien nachweisen, dass mit derartigen Massnahmen (und noch ohne umfassende Digitalisierung der Zugsteuerung) gut 25 Prozent mehr Zugkilometer angeboten werden können. Die Angebotsziele AS2035 – also zusätzliche Kapazitäten, Viertelstundentakte, Direktverbindungen – lassen sich damit auch ohne grössere Ausbauten realisieren.

«Wir», das ist ein informales Netzwerk von jüngeren1 und älteren2 Bahnprofis, das sich seit anderthalb Jahren mit der Lage der Bahn auseinandersetzt - ohne pekuniäre Interesse, allein aus Überzeugung an der Sache.

Die Schlussfolgerung ist: Wir brauchen ein Moratorium bei den Ausbauprojekten.

16. Die Eisenbahn vor ihrem dritten Jahrhundert

Vor bald zehn Jahren habe ich ein Bild gesehen: Zehn nebeneinander stehende Hochgeschwindigkeitszüge und die Bildlegende: Peking – Gangzhou: 2105 km in 8 Std.

Das chinesische Bahnnetz umfasste 1980 50'000 Kilometer. Heute sind es 124'000 Kilometer.

2018 titelte der «Spiegel»: Die Zukunft gehört dem Zug.

Unlängst habe ich gelesen: «Für den Transport der wachsenden Menschenmassen zwischen den Städten sowie der Pendler ist kein Verkehrsträger in Sicht, der sich mit der Bahn messen könnte.»

Die Zeichen sind klar - Die Eisenbahn hat die Trümpfe in der Hand:

Engmaschige Netze, hoher Durchsatz, in vielen Verkehren konkurrenzlos schnell, flächen- und energieeffizient, gute CO2-Bilanz (unter der Voraussetzung, dass Energie aus erneuerbaren Quellen eingespeist wird).

Ich bemühe nochmals die Ironie der Geschichte.

Die Bahn befindet sich heute in einer strategischen Position, die so gut ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Das ist für meine Generation, die sich so lange durch die Mühen der Ebene gekämpft hat, ein kleines Wunder.

An den Bahnunternehmen ist es, unterstützt von einer klugen Bahnpolitik, diese einmalige Chance mit Entschiedenheit und Professionalität zu nutzen.

17. Langfristige Angebots und Netzentwicklung

Ebenso notwendig wie die kurz- und mittelfristigen Aktionen ist eine Auseinandersetzung über ein Zielbild für das Schweizer Bahnsystem in der in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts.

Bedeutende Marktanteilgewinne gelangen zuletzt mit dem Konzept Bahn 2000. Seither hat sich der Marktanteil der Bahn trotz grosser Investitionen nicht erhöht. Um die Marktanteile signifikant zu erhöhen, braucht es neuartige Verbindungen, die mit den bestehenden und geplanten Infrastrukturen nicht realisierbar sind.

Einige Defizite des heutigen Bahnsystems lassen sich klar identifizieren:

Um zu zeigen, wie man die Grenzen des heutigen Systems überwinden könnte, präsentieren wir einen Grundidee mit vier Schwerpunkten:

  1. Verbesserung der Anschlüsse Richtung Lyon und München, welche der Schweiz Zugang zum europäischen Hochgeschwindigkeitsnetz und damit mit dem Luftverkehr konkurrenzfähige Verbindungen z.B. nach Berlin und Barcelona verschaffen.
  2. Revitalisierung von «Léman Sud» mit folgenden Vorteilen: Beschleunigung der Verbindungen mit dem Wallis, Entlastung des Knotens Lausanne.
  3. Eine zweite nationale Ost-West-Achse vom Raum Bern nach Luzern - Zug - Pfäffikon - St. Gallen mit erheblichen Beschleunigungen im Verkehr Westschweiz - Bern nach Luzern, Zug, St. Gallen und einer Entlastung der Knoten Olten und Zürich.
  4. Neue Agglomerationsbahnhöfe, die grossen Teilen der Bevölkerung Anschluss ans nationale Bahnnetz ermöglichen.

Das ist nichts anderes als eine Grundidee - es geht heute weder um Streckenplanung noch um Bahnhofkapazitäten. Wir warten gespannt auf weitere Vorschläge.

18. Was tun?

  1. Moratorium Ausbauprojekte
  2. Bestehendes System optimieren
  3. Diskurs über die langfristige Angebots- und Netzkonzeption

Benedikt Weibel