Kolumnen von Benedikt Weibel

Wie der Erdölschock das Geschäftsmodell der SBB zerstörte

"NZZ" 25. November 2023

Als die Autobahnen am 25. November 1973 am ersten von drei autofreien Sonntagen von Velofahrerinnen und Fussgänger gestürmt wurden, ahnte niemand, dass damit das Ende der längsten Wachstumsphase der Geschichte eingeläutet wurde. 1970 hatte der Durchschnittspreis pro Barrel Öl noch 2.52 Dollar betragen. Als die OPEC-Staaten während des Jom-Kippur-Krieges die Fördermenge um 5 Prozent drosselten, kletterte der Erdölpreis auf über 40 Dollar, was die erste weltweite Rezession nach dem Zweiten Weltkrieg auslöste.

Die SBB war zu dieser Zeit vor allem eine Güterbahn. 1973 wurde im Güterverkehr mit einem Ertrag von 1258 Millionen Franken ein Rekordergebnis erzielt, das bis heute nie mehr erreicht wurde. Der Personenverkehr nahm 722 Millionen Franken ein. In den beiden Folgejahren verlor der Güterverkehr einen Viertel seiner Tonnage; der Güterverkehrsertrag betrug 1975 noch 1052 Millionen Franken. Der Fehlbetrag der SBB stieg von 234 Millionen Franken (1974) auf 622 Millionen Franken (1975).

Von der Depression zum Waldsterben

1981 wurde mit 720 Millionen Franken das höchste Defizit in der Geschichte der SBB ausgewiesen. Von 1974 bis 1986 türmten sich Verluste von insgesamt 6724 Millionen Franken auf. Das neue, 1972 eingeführte Logo der SBB wurde vom Volksmund «Pleitegeier» getauft. In diesen Jahren kursierte in Eisenbahnkreisen ein Wirz: Der liebe Gott ist zu einem Besuch auf die Erde gekommen. An einem Strassenrand sieht er einen Mann, der bitterlich weint. Der liebe Gott bückt sich und fragt: was haben sie denn für Kummer, lieber Mann.? Der sagt: ich bin Eisenbahngeneraldirektor. Da setzt sich der Liebe Gott auf den Boden und beginnt zu weinen.

Die Wende kam mit der Angst vor einem Waldsterben. 1985 trafen sich die Eidgenössischen Räte unter diesem Titel zu einer Sondersession. Ein zentrales Thema waren Verbesserungen im öffentlichen Verkehr. Das Parlament genehmigte den Vorschlag, das Halbtaxabonnement auf 100 Franken zu verbilligen - inklusive einer Abgeltung für die erwarteten Einnahmenausfälle. Die SBB wurde zudem beauftragt, das angedachte Konzept Bahn 2000 für einen massiven Angebotsausbau zur Entscheidungsreife zu bringen.

Das Halbtax-Abo für 100 Franken wurde 1987 eingeführt. Nach nur zwei Jahren waren Zwei Millionen Abos im Umlauf. Die Subvention wurde nach dem ersten Jahr wieder gestrichen. Das Projekt Bahn 2000 wurde im Rekordtempo durch die Eidgenössischen Räte gejagt. Am 6. Dezember 1987 stimmte das Schweizer Volk dem Vorhaben zu. Am 12. Dezember 2004, morgens um 3 Uhr, wurde der Fahrplan umgestellt. Seither gilt im Grundsatz, dass mit dem öffentlichen Verkehr mindesten jede Stunde von überall nach überall gefahren werden kann, in den meisten Relationen jede halbe Stunde. 2005, im ersten Bahn2000-Jahr, wurden im Personenverkehr 2076 Millionen Franken eingenommen, im Güterverkehr noch 957 Millionen Franken.

Verschlechterte Rahmenbedingungen

Der Personenverkehr hat die strategische Wende geschafft - im Gegensatz zum Güterverkehr. Der Güterverkehr mit der Bahn kann seine systemischen Vorteile im Transport grosser Massen auf grosse Distanzen ausspielen, was ihm in der Kleinräumigkeit der Schweiz von vornherein Grenzen setzt. Viele nicht beeinflussbare Rahmenbedingungen haben sich ungünstig entwickelt. Der Anteil der Industrieproduktion ist um mehr als die Hälfte geschrumpft - der hohe Erschliessungsgrad von Industriestandorten mit Anschlussgleisen wurde damit entwertet. Der Postverkehr, der rund 100 Millionen Franken im Jahr einbrachte, ist mit einem neuen Logistikkonzept der Post auf einen Bruchteil geschrumpft. Jahrelang konnte der Bahngüterverkehr der SBB von Monopolpreisen profitieren – zum Beispiel beim Transport von Kerosin. Mit der Liberalisierung des Bahn-Güterverkehrs in den 1990er-Jahren sind diese Deckungsbeiträge verschwunden. Ein Konkurrent braucht bloss einen Lokomotivführer und eine Lokomotive, um einen derartigen Zug zu führen. In der Folge sind die Preise auf mehr als die Hälfte gesunken. Die Erhöhung des Höchstgewichtes der Lastwagen von 28 auf 40 Tonnen wurde zwar mit der leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA) kompensiert, benachteiligt die Bahn aber beim Transport schwerer Güter.

In welchem Masse sich die Verhältnisse verändert haben, zeigen diese Zahlen: 1973 betrug die Verkehrsleistung im Güterverkehr 6,7 Milliarden Tonnenkilometer, der Ertrag 1258 Millionen Franken; 2022 waren es 16.5 Milliarden Tonnenkilometer, für die gerade noch 763 Millionen Franken eingenommen wurden. Der durchschnittliche Ertrag pro Tonnenkilometer ist von 18,8 Rappen auf 4,6 Rappen gefallen. Das allein ist dramatisch, erst recht, wenn die Inflation berücksichtigt wird. Der Ertrag im Personenverkehr ist heute mehr als viermal grösser als jener im Güterverkehr. Auch der Bereich SBB-Immobilien hat den Güterverkehr überflügelt.

Vergebliche Mühen

Das Management im Güterverkehr dreht seit 50 Jahren an allen Stellschrauben. Der Verlustträger Stückgut wurde zunächst mit dem Konzept Cargo Domizil neu aufgestellt und später ausgelagert. In Deutschland und Italien wurden Tochtergesellschaften für den Transit-, Import- und Exportverkehr gegründet. Die SBB-Division Güterverkehr wurde in eine AG übergeführt, an der sich auch private Transportfirmen beteiligten – ein Experiment, das nach kurzer Zeit wieder abgebrochen wurde. Seit Jahrzehnten wird am Bedienungsraster herumgefeilt, was heisst, dass sukzessive Bedienungspunkte und Rangierbahnhöfe geschlossen wurden. Die Resultate sind ernüchternd. In den letzten 20 Jahren konnte fünfmal ein positives Ergebnis im Güterverkehr von insgesamt 64 Millionen Franken erzielt werden, während sich die Verluste auf 1159 Millionen Franken summierten.

Ein Blick über die Grenze zeigt: Der Deutschen Bahn geht es nicht besser, obwohl die Voraussetzungen in dem zehnmal grösseren Land wesentlich vorteilhafter sind. Auch dort schreibt der Güterverkehr Verluste, vor allem im Geschäft mit einzelnen Güterwagen. Private Wettbewerber schaffen es, gewinnbringend zu produzieren, weil sie sich auf die Stärken des Schienengüterverkehrs konzentrieren.

Was tun?

Eine alte strategische Weisheit sagt, dass es in einer solchen Situation nur drei Möglichkeiten gibt: fix it, sell it or close it. Seit 50 Jahren versucht man ersteres - ohne Erfolg. Es gibt keinen anderen Weg aus der Misere als eine radikale Fokussierung auf die Stärken des Schienengüterverkehrs. Masse und Distanz: Dort, wo das gelebt wird, gibt es sogar in diesem schwierigen Markt eine Erfolgsgeschichte. 2022 wurden 74 Prozent des alpenquerenden Verkehrs mit der Bahn durch die Schweiz transportiert. SBB Cargo International hat von 2012 bis 2022 per Saldo immerhin einen Gewinn von 31, 8 Millionen Franken erzielt.

Benedikt Weibel