Kolumnen von Benedikt Weibel
Quo vadis DB?
"GRV (Gesellschaft für rationale Verkehrspolitik) - Nachrichten" August 2023
Vor zehn Jahren, auf einer langen Bahnfahrt nach Lugano und zurück, schockierte mich eine Kurznachricht. Die DB war nicht mehr in der Lage, den Bahnhof Mainz zu bedienen, weil kein einsatzbereites Fahrdienstpersonal zur Verfügung stand. Ich verfasste noch im Zug einen Text über die Hilflosigkeit der Deutschen Bahn, der im Onlinemedium «Kontext» publiziert wurde (und zu den meistgelesenen Artikeln des Jahres gehörte). Der Unterschied zwischen DB und SBB schrieb ich, sei die Unternehmungskultur. «Die Deutsche Bahn will ein globaler Player sein. Wer eine solche Flughöhe hat, dem ist Mainz längst aus dem Fokus entschwunden.» Und: «Der Eigentümer muss in einer Eignerstrategie definieren, was er von der Bahn will.» Es ist nicht besser geworden seither, im Gegenteil.
Der Bericht des Bundesrechnungshofes vom März 2023 ist schonungslos. Die DB ist in einer Dauerkrise; ihre Infrastruktur ist ein Sanierungsfall - Unterhalt und Erneuerung wurden über Jahrzehnte vernachlässigt; ihre Beteiligungsstrategie ist fragwürdig, «die anvisierte Fokussierungsstrategie «Starke Schiene» ist – wie viele andere Lösungsansätze – eine «weitgehend wirkungslose Worthülse». Man muss es mit aller Klarheit benennen: Die Lage der DB ist die Folge eines kollektiven Versagens sämtlicher involvierter Organe: Aufsichtsrat und Vorstand der DB, Ministerium, Regierung, ja: auch des Rechnungshofes – der jahrzehntelang weggeschaut hat. Ein Versagen übrigens, das nicht nur Deutschland trifft. Wenn, was heute die Regel ist, ein Transitgüterzug mehrere Stunden verspätet an der Schweizer Grenze eintrifft, gefährdet das die Rentabilität der neuen Alpentransversalen.
Wie konnte es so weit kommen? Seit mich erinnere, war jeder operative Chef der DB branchenfremd. Mit Richard Lutz kam erstmals ein Manager mit einer Bahn-Karriere an die Spitze. Als Finanzer ist er mit den operativen Problemen aber wenig vertraut. Noch im Januar 2023 erklärte er in einem Interview: «Dass das System so früh in einen so kritischen Bereich kommen würde, wurde erst im vergangenen Jahr so richtig deutlich.» Obwohl schon 2021 im Netzzustandsbericht der DB zu lesen ist: «das vordringliche Ziel ist, das Bestandesnetz so schnell wie möglich zu ertüchtigen». Die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner wissen bestens Bescheid über den Zustand ihrer Firma. Aber wie in jeder grossen Unternehmung werden auch in der DB schlechte Nachrichten nach oben gefiltert. Dem kann man nur begegnen, indem das Top-Management einen systematischen und offenen Dialog mit den Mitarbeitenden im operativen Betrieb pflegt. Was bei der DB offenbar vernachlässigt wurde.
Die Initialzündung für die unheilvolle Entwicklung war die Liberalisierungs- und Deregulierungswelle der 1990er-Jahre. Mit der Bahnreform wurden die Bahnunternehmen verselbständigt. Die Politik glaubte sich dispensiert, die Verantwortung sah sie integral bei den Organen der Bahn. Obwohl immer klar war, dass die DB-Infrastruktur ohne systematische Zuschüsse des Staates nicht lebensfähig ist, war der Börsengang der DB während Jahren ein dominierendes Thema. Vorstand und Aufsichtsrat dachten gross: in der Logistik und im Personenverkehr sah man sich als globalen Player. Damit ging nicht nur der Fokus aufs eigentliche Bahngeschäft verloren, man beschädigte auch die sprichwörtliche, auf Disziplin beruhende Kultur der Eisenbahnerinnen und Eisenbahner. Vor allem aber haben die Organe der Bahn ihre prioritäre Aufgabe nicht wahrgenommen: die Erhaltung und Erneuerung des Bestandesnetzes. Bahnhöfe waren ursprünglich die Kathedralen der Moderne, für viele Ortschaften ein Symbol für die Verbundenheit mit der Welt. Wenn man den beklagenswerten Zustand vieler Bahnhöfe in Deutschland sieht, kriegt man den Eindruck, dass die Führung der DB nicht verstanden hat, dass einladende Bahnhöfe nicht nur das Image von Bahn und Kommunen prägen, sondern auch kommerziell höchst interessant sind.
Meines Wissens hat die DB nie ein stringentes Netzentwicklungskonzept erarbeitet. Dass das Netz nur zu 61 Prozent elektrifiziert ist, ist kaum zu fassen. Grosse Ausbauvorhaben waren isolierte Projekte. Geradezu grotesk ist Stuttgart 21. Ursprünglich als Immobilienprojekt gestartet, dann aufs Eis gelegt, wieder reanimiert, wurde das Megaprojekt neu mit dem Passagieraufkommen von Paris nach Bratislava begründet. Wenn der neue Bahnhof 2025 in Betrieb geht, wird er rund 10 Milliarden Euro gekostet haben. Mit dem Effekt, dass man aus dem südlichen Neckartal und der Schweiz nicht mehr in den Hauptbahnhof fahren kann.
Die Situation ist fatal, weil die Bahn für die Erreichung der Klimaziele bis ins Jahr 2050 eine entscheidende Rolle spielt. Viel Zeit bleibt dazu nicht mehr. Grosse Ausbauten brauchen Jahrzehnte – und kommen zu spät. Was tun? Ich sehe vier Prioritäten: Erstens ein strikter Fokus auf den operativen Betrieb – sicher, pünktlich, sauber –, vom Topmanagement bis zur letzten Betriebsleitstelle. Zweitens die Sanierung und Modernisierung des bestehenden Netzes und der Bahnhöfe. Drittens Erarbeitung eines Produktionskonzeptes, welches das bestehend Netz optimal auslastet und kurzfristige Fahrplanverbesserungen erlaubt. Und viertens Überprüfung aller Ausbauvorhaben und Konzentration auf Investitionen, die rasch zu verwirklichen sind und eine grosse Hebelwirkung haben. Gleichzeitig muss sich die Bundespolitik darüber klar werden, mit welchen Vorgaben sie die DB in die Zukunft führt.
Benedikt Weibel