Kolumnen von Benedikt Weibel

Irrwege zu einem nachhaltigen Verkehr

"NZZ" 13. März 2023

Vor über dreissig Jahren publizierten die drei grossen Magazine in Deutschland die gleiche Titelgeschichte über einen bevorstehenden Verkehrsinfarkt – die Selbsterstickung des Autoverkehrs durch eine Verkoppelung aller Staus auf den Autobahnen. Seither hat sich der Automobilbestand in Deutschland um fast 60 Prozent erhöht, die Autos sind breiter, länger und schwerer geworden. Trotzdem hat sich der Verkehrsinfarkt bis heute nicht ereignet. Warum lagen alle Prognosen derart daneben? An der Strasseninfrastruktur kann es nicht liegen, die wurde nicht im selben Masse erweitert Die Antwort ist banal: weil sich der Automobil-Verkehr selbst steuert. Für die meisten Fahrten bestehen Alternativen: zeitlich schieben, andere Route wählen, die Fahrt unterlassen, ein anderes Verkehrsmittel verwenden. Wer an Ostern durch den Gotthard fährt, weiss, was ihn erwartet. Anstelle der verkehrspolitischen Apokalypse trat die nüchterne Feststellung «Staufreier Verkehr ist eine Illusion». (NZZ vom 13. April 2019).

Die aktuellen Verkehrsprognosen des Bundes sind zurückhaltend. Bis im Jahr 2050 soll der Personenverkehr um 11 Prozent wachsen, das sind noch 3,8 Promille pro Jahr. Für das Jahr 2040, so die Vorhersage, wird das Autobahnnetz ohne Gegenmassnahmen auf 170 Kilometern (das sind 11 Prozent des gesamten Netzes) täglich während zwei bis vier Stunden durch Stau oder stockenden Verkehr belastet. Andersherum: selbst auf den am stärksten belasteten Autobahnabschnitten herrscht während 20 bis 22 Stunden am Tag freie Fahrt. Was wohl überall sonst auf der Welt als idyllisch bezeichnet würde, ist in der Schweiz offenbar ein Problem. Deshalb beantragt der Bundesrat dem Parlament Erweiterungsprojekte im Umfang von 11.1 Milliarden Franken, damit diese zwei bis vier Stunden Stau oder stockender Verkehr auf einem Bruchteil des Autobahnnetzes eliminiert werden können. Zwei dieser Grossprojekte liegen im Raum Bern. Wie gut der Autoverkehr in dieser Region fliesst, zeigt sich in der Rangliste der Verkehrsbelastung von 389 Städten aller sechs Kontinente: Bern rangiert weit hinten auf dem 246. Platz. Die vorgeschlagenen Erweiterungen sind nicht nur ökonomisch in höchstem Masse fragwürdig, sondern auch verkehrspolitisch. Wie Erfahrungen zeigen, führt die Beseitigung eines Engpässen oft nur zu einer Verlagerung: Wenn die A 1 zwischen Wankdorf und Kirchberg ausgebaut wird, werden die folgenden Abschnitte Richtung Zürich unweigerlich zum Flaschenhals.

Zu beachten ist ausserdem ein Phänomen, das erstaunlicherweise kaum je thematisiert wird: Etwa die Hälfte aller Autofahrten sind kürzer als 10 Kilometer. Gelänge es, einen substanziellen Teil dieser Fahrten durch das Velo, E-Bike oder den Fussverkehr zu ersetzen, würde das nicht nur die Stadtautobahnen entlasten, sondern auch den CO2- Ausstoss erheblich mindern, die Gesundheitskosten senken und die Lebensqualität erhöhen. Wie war doch in der NZZ unlängst zu lesen: «Bewegung – Rezept gegen hohe Prämien» und «10’000 Schritte pro Tag können das Demenzrisiko halbieren».

Die Schweiz hat vor acht Jahren das Klimaabkommen von Paris unterzeichnet und sich verpflichtet, alles zu unternehmen, damit das Land bis 2050 klimaneutral ist. 30 Prozent des Treibhausgasausstosses in der Schweiz wird durch die Mobilität verursacht, etwa 90 Prozent davon vom motorisierten Individualverkehr. Der Verkehr ist der einzige Sektor, der seit 1990 bis zum Vor-Coronajahr 2019 seine Emissionen sogar noch erhöht hat. Ohne eine Verkehrswende ist das Klimaziel nicht zu erreichen. Die beantragten Ausbauten des Nationalstrassennetzes bringen uns der Klimaneutralität nicht einen Schritt näher, im Gegenteil.

Benedikt Weibel