Kolumnen von Benedikt Weibel
Das Märchen von der Produktivitätssteigerung
"Schweiz am Wochenende" 11. Februar 2023
Zwei Begriffe, die gegensätzlicher nicht sein könnten, haben im Moment Hochkonjunktur: Fachkräftemangel und Viertagewoche. Unter ersterem ächzen praktisch alle Branchen; die Viertagewoche gesetzlich zu verankern ist eine fast über Nacht aufgetauchte Forderung, natürlich ohne Lohneinbusse. Das rechne sich auch für die Arbeitgeber, wird argumentiert, weil sich infolge der kürzeren Arbeitszeit die Produktivität erhöhe. Man nimmt also an, dass in vier Tagen die gleiche Leistung erbracht wird wie heute in fünf Tagen. Konkret: Wenn die Arbeitszeit um 20 Prozent gesenkt wird, muss sich der Ausstoss um 25 Prozent erhöhen, wenn die gleiche Leistung erbracht werden soll. Zu dieser Hypothese gebe es wenig schlüssige Fachliteratur, war zu lesen. Die braucht es auch nicht, eine Beurteilung mit gesundem Menschenverstand genügt.
Schneller rennen
Wie soll eine Lokführerin in 32 Stunden die gleiche Leistung erbringen wie in 40 Stunden? Oder das Lehrpersonal? Logischerweise müsste man auch gleich die Viertagewoche in der Schule einführen. Das Unterrichtstempo müsste erheblich gesteigert werden, um den Schülerinnen und Schülern trotz der um 20 Prozent gekürzten Unterrichtszeit alle 453 Kompetenzen gemäss Lehrplan 21 beizubringen. Was machen die Polizistinnen und Polizisten, um ihre Produktivität zu erhöhen? Oder der Lastwagenfahrer: schneller fahren, ein- und ausladen? Oder das Personal, das im Detailhandel die Regale auffüllt? Schneller durch den Laden rennen und dank optimiertem Bewegungsablauf das Tempo beim Auffüllen erhöhen? Wie sollen das Servierpersonal, die Köchinnen und Pfleger ihre Produktivität erhöhen? Oder die Journalistin: schreibt sie in vier statt fünf Tagen die gleiche Anzahl Artikel in der gleichen Qualität? Der Chirurg operiert schneller? Einzig beim Fliessband kann man es sich vorstellen: man muss einfach das Band schneller laufen lassen. Die Arbeiter haben ja einen zusätzlichen Tag Zeit; um sich zu erholen.
Auch ein Starökonom kann sich irren
1930 hat der grosse Ökonom John Maynard Keynes in seinem Essay „Die wirtschaftlichen Möglichkeiten unserer Enkelkinder“ vorhergesagt, seine Enkel würden dereinst noch 15 Stunden die Woche arbeiten. Seither wird er immer wieder als Kronzeuge für eine radikale Kürzung der Arbeitszeit bemüht. Keynes hat seine These aber unter zwei Annahmen getroffen, die sich nicht im Entferntesten eingestellt haben: kein Bevölkerungswachstum und keine Kriege mehr. Zur gleichen Zeit haben andere Ökonomen festgestellt, dass die Produktivität in der Industrie dank der Automatisierung wesentlich stärker erhöht werden kann als im Bereich der Dienstleistungen. Ihre Prognose, dass der Dienstleistungssektor schneller wächst als die Industrie, hat sich bewahrheitet. Heute sind über Dreiviertel alle Arbeitsplätze im Land in diesem Bereich angesiedelt. Auch deshalb sind die Möglichkeiten der Produktivitätssteigerung begrenzt.
Auf dem Weg ins Schlaraffenland
Ein dritter Begriff ist ebenfalls allgegenwärtig: Teilzeitarbeit. «Die Schweiz träumt von der 3-Tage-Woche» wird mit fetten Lettern als Titel gesetzt. Im Klartext: Viertagewoche mit vollem Lohn, davon 75 Prozent in Teilzeit. Wenn sich dieser Trend weiterzieht, landen wir im Schlaraffenland, wo Milch und Honig fliessen und Brathähnchen durch die Luft fliegen. Karl Marx hat die Utopie vom freien Menschen in der klassenlosen Gesellschaft plastisch umschrieben. Dort soll es möglich sein «heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu sein.» Friedrich Engels, Mitverfasser des Kommunistische Manifests, sieht es anders: für ihn ist Arbeit die Quelle allen Reichtums. Damit stützt er die grosse Erzählung von der Schweiz: Unser Wohlstand gründet auf fleissiger Arbeit.
Es ist offensichtlich: Eine gesetzlich vorgeschriebene Viertagewoche zum gleichen Lohn würde die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz in hohem Masse beeinträchtigen. Ohne staatliche Kompensationszahlungen wäre sie kaum umzusetzen. Woher aber sollte der Staat das Geld dafür nehmen? Bei der Quelle unseres Wohlstandes - durch die Besteuerung der Arbeit. Da beisst sich die Katze endgültig in den Schwanz. Übrigens: Wenn jemand 1950 - im ersten Jahre des Bestehens der AHV - pensioniert wurde, hatte er in seinem Berufsleben 120‘000 Stunden gearbeitet. Heute sind es noch 75‘000 Stunden.
Benedikt Weibel