Kolumnen von Benedikt Weibel

Fürstlich bezahlter Blindflug

"Persönlich" 1. Februar 2009

In meiner Zeit bei der Bahn hatte ich einige Gelegenheit, mich im Umgang mit Krisen zu üben. Ein Bahnchef hat zwei Leben, eines vor und eines nach dem ersten grossen Unfall. Da geht es um Menschenleben, und deshalb gehen Unfälle an die innerste Substanz. Eine unauslöschliche Erfahrung ist auch der Blackout vom Sommer 2005, mit Hunderttausenden gestrandeten Bahnfahrern an einem wunderschönen Sommerabend. Da hat mich enorm geärgert, dass wir, die wir so stolz auf unser Risikomanagement waren, die Möglichkeit eines totalen Stromausfalles nie in Erwägung gezogen haben.

Wenn sich ein gravierender Vorfall ereignete, war der Ablauf geregelt: 1. Krisenstab einsetzen; 2. Wissen, was passiert ist; 3. Krisenmanagement mit entsprechender Kommunikation; 4. Ursachen analysieren; 5. Lehren ziehen.

Ohne Zweifel befinden wir uns in der grössten Wirtschaftskrise seit Generationen. Die Krisenmanagements sind eingesetzt. Aber wissen wir wirklich, was passiert ist? Das NZZ Folio vom Januar ist der Finanzkrise gewidmet. Eigenartigerweise mit dem Untertitel "Für Leute, die sich nicht für Wirtschaft interessieren". Ich hab’s trotzdem gelesen. Und war von der journalistischen Leistung beeindruckt. Es zeigt sich auch hier: Krisen sind das Ergebnis von Wirkungsketten, die Kausalität ist selten offensichtlich. Bei der Finanzkrise beginnt diese Kette bereits 1971 mit der Aufhebung des damals gültigen Währungssystems mit festen Wechselkursen. Nach der Lektüre der unglaublich komplexen Geschichte frage ich mich: Was sind denn eigentlich die Hauptursachen der heutigen Situation? Ich notiere: Der globale Geldtopf verdoppelt sich in nur sechs Jahren, von 36 auf 70 Billionen Dollar. Diese riesige Menge Kapital sucht nach Anlagen mit geringem Risiko und hoher Rendite. Ein extrem niedriger Leitzins (als Folge von 9/11) beeinträchtigt die Renditemöglichkeiten. Das Hypothekengeschäft wird zur Alternative. Die ohnehin schon hohe Verschuldungsquote in den USA wird noch mehr in die Höhe getrieben. Die Verbriefung von Krediten entkoppelt die Kreditgewährung und den Schuldendienst. Es werden laufend komplexere Finanzinstrumente kreiert, was zu immer spekulativeren Wetten mit noch grösserem Einsatz und stärkerer Hebelwirkung führt. Der Einsatz dieser Instrumente verläuft völlig ungeregelt. Der Eigenkapital-Anteil der Banken sinkt permanent. Die Ratingagenturen bewerten die meisten hypothekarisch gesicherten Wertpapiere ("gebündelter Schrott") mit AAA. Der Zerfall der Immobilienpreise in den USA löst die Krise aus. Der Konkurs von Lehman Brothers zerstört das Vertrauen unter den Banken und führt zum Zusammenbruch des Interbanken-Marktes.

Offensichtlich ist: Die exorbitant entschädigten Manager der Grossbanken haben ihr Geschäftsmodell nicht mehr verstanden, zu komplex waren die verwendeten Instrumente. Und die Verwaltungsräte haben es nicht bemerkt und müssen sich heute die Frage gefallen lassen, wie sie es mit der Oberaufsicht gemäss OR 716 gehalten haben. Management ist in einer immer volatileren Welt ein anspruchsvolles Handwerk. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist das Grundwissen über das eigene Geschäft. Dass sich eine ganze Branche einer relativ geringen Anzahl von smarten Investment Bankern ausgeliefert und letztlich gar nicht verstanden hat, was die tun, das ist der eigentliche Skandal.

Wir aber, die wir in anderen Geschäften tätig sind, müssen uns fragen: Verstehen wir das Geschäft in allen Einzelheiten? Haben wir die Komplexität im Griff? Wissen wir alles? Wie entwickeln sich Eigenkapital und Liquidität? Ist die Liquidität gesichert? Was ist der Worst Case? Welche Manövriermasse haben wir bei den Kosten? Sind die Pläne B und C bereit?

Und wiegen wir uns nicht in falscher Sicherheit. Im Folio werden die Banker wie folgt zitiert: "Sie sehen einfach kein Licht am Ende des Tunnels. Und wenn, dann sind es die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Zugs."

Benedikt Weibel