Kolumnen von Benedikt Weibel
Die Zerstörung der Bahn durch ihre Anhänger
"NZZ" 26. Juli 2022
Vor sieben Jahren hat sich die Schweiz im Pariser Klimaabkommen verpflichtet, «mit der höchstmöglichen Ambition» alles zu unternehmen, um die Treibhausgasemissionen bis 2050 auf netto-null zu senken. Mittlerweile mehren sich die Alarmrufe. Das Zeitfenster für griffige Massnahmen schliesse sich rasch, steht im neusten Bericht des UN- Klimarates. Die Rückversicherer warnen vor den unermesslichen Folgen der zunehmenden Umweltzerstörung. Die Hälfte des weltweiten Bruttoinland-Produktes sei aufgrund der wirtschaftlichen Anhängigkeit von der Natur gefährdet.
Ohne eine Verkehrswende ist das Klimaziel nicht zu erreichen. «Alles, was es zum Wandel braucht ist schon da», war kürzlich zu lesen. Dem ist so. Wir verfügen über hervorragende Verkehrsnetze auf Strasse und Schiene, beide sind im Durchschnitt nur mässig ausgelastet.
Möglichst grosser Nutzeffekt
Grossinvestitionen ins Schienen- und Strassennetz brauchen von der Idee bis zur Realisierung derart viel Zeit, dass sie im Kampf gegen den Klimawandel kaum mehr Wirkung erzielen können. Erste logische Folgerung: Mit oberster Priorität müssen die bestehenden Netze besser ausgelastet werden.
Die NZZ hat kürzlich in einem Artikel über die chinesische Investitionspolitik darauf hingewiesen, wie sehr Produktivität und Profitabilität von Infrastrukturvorhaben mit zunehmender Menge sinken. Ursache dieses Phänomens ist das unerbittliche Gesetz des abnehmenden Grenznutzens. Zweite logische Folgerung: Es sind nur noch Ausbauinvestitionen zu tätigen, die mit möglichst wenig Kapitaleinsatz einen möglichst grossen Netzeffekt erzeugen.
Das haben wir in der Vergangenheit schmerzhaft gelernt. Das Zürcher Volk lehnte zwei masslos überrissene Vorhaben ab, bevor das Konzept der S-Bahn Zürich mit einem Kredit von 520 Millionen Franken angenommen wurde. Mit dem neuen unterirdischen Bahnhof Museumsstrasse, einem Tunnel nach Stadelhofen, dem Ausbau des Bahnhofs Stadelhofen und dem Zürichberg-Tunnel wurde ein grosser Netzeffekt erzielt. Ebenfalls massiv überrissen war das Projekt neuer Bahn-Haupttransversalen, das vom Konzept Bahn 2000 abgelöst wurde. Kern des ebenfalls in einer Volksabstimmung angenommenen Vorhabens ist eine bloss 45 km lange Neubaustrecke zwischen Bern und Olten. Insgesamt betrugen die Investitionen für die Bahn 2000 5,9 Milliarden Franken. Nach dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens müssten Folgeinvestitionen demnach günstiger sein.
Knappe Mittel und kritische Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben in der Vergangenheit die Planer zu kreativen Lösungen mit optimalem Mitteleinsatz gezwungen. Seit der Annahme der Vorlage «Finanzierung und Ausbau der Bahninfrastruktur» (FABI) durch Volk und Stände hat die Knappheit ein Ende gefunden. Nun wird nicht mehr über Angebote debattiert, nur noch über Investitionen. Nie blüht der Föderalismus üppiger als bei einem Investitions-Wunschprogramm, das die Kantone nichts kostet. Der jüngste Standbericht über die Eisenbahnausbauprogramme braucht mehr als 100 Seiten, um alle geplanten Investitionen der drei Pakete ZEB (Zukünftige Entwicklung Bahninfrastruktur, Ausbauschritt 2025 und Ausbauschritt 2035) darzustellen. Insgesamt summieren sich diese Investitionen auf sagenhafte 25.5 Milliarden Franken.
Gefährliche Investitionspolitik
Der grosse Teil dieser Projekte kommt zu spät, um im Kampf gegen den Klimawandel noch eine Rolle zu spielen. Die Auswirkungen einer solchen Investitionsorgie haben zerstörerisches Potenzial. Jeder Investitionsfranken löst ungefähr 4 Prozent Folgekosten pro Jahr aus - man rechne! Was es heisst, derartige Unsummen unter laufendem Betrieb zu verbauen, ist kein Thema. Dabei ist zu vermuten, dass die überbordende Bautätigkeit auf dem SBB-Netz schon heute die Hauptquelle eines zunehmend als instabil wahrgenommenen Betriebs ist.
Man kann es nicht laut genug sagen: Diese Branche und unzählige damit verbundene vorwiegend föderale Instanzen haben jedes Verhältnis zum Geld verloren. Glücklicherweise hat eine neue Generation von Planern bei den Bahnen begriffen, dass mit intelligenten Gleislayouts im Zusammenspiel mit erprobter digitaler Technologie schnell und günstig zusätzliche Kapazität geschaffen werden kann und Ausbauinvestitionen die ultimative Ratio bleiben.
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Es bleibt nur noch wenig Zeit, um sich dem Imperativ der Logik zu beugen.
Benedikt Weibel