Kolumnen von Benedikt Weibel
Verkehrspolitik: Streit um Zahlen bringt wenig
"NZZ" 1. Februar 2022
Die NZZ hat uns am 24. Dezember 2021 eine reichhaltige Wochenendbeilage beschert. Die „Anleitungen für das rationale Tischgespräch“ sind ebenso amüsant wie nützlich. Die zweite der zehn Regeln stipuliert, dass das Gewicht der Beweise für eine ausserordentliche Behauptung im Verhältnis zu ihrer Seltsamkeit stehen müsse.
Mit ebenso grossem Interesse lese ich die vorweihnächtliche Verlagsbeilage „Erfolgreich und liberal – Reformideen für die Schweiz“. In dem Artikel “Ob Verkehr, Energie oder Daten: gefragt ist echte Kostenwahrheit“ präsentiert der Ökonom Reiner Eichenberger mit einem Co- Autor die These: Wenn man dem Verkehr die gesamten Kosten einschliesslich der Subventionen anlastet, wird das Kapital optimal alloziert und die Verkehrsprobleme sind gelöst. Um zu zeigen, wie schief die Verhältnisse heute sind, nennt er zwei Zahlen: „Die totalen externen Kosten im motorisierten Individualverkehr betragen 7,3 Rappen pro Personenkilometer, im Bahnverehr hingegen 24,5 Rappen.“
Berechnung der externen Kosten
Der gesunde Menschenverstand sträubt sich. Die Differenz zwischen Auto und Bahn ist derart aussergewöhnlich, dass man sich auf die Suche nach Beweisen macht. Gemäss Bericht des Bundesamtes für Raumplanung (ARE), auf den sich Eichenberger bezieht, betragen die externen Kosten des privaten motorisierten Strassenverkehrs 7,7 Mrd. Franken, für den Personenverkehr auf der Schiene 639 Mio. Franken (Bezugsjahr 2018). Auf der Strasse wurden in diesem Jahr 102 Mrd. Personenkilometer zurückgelegt, auf der Schiene 21 Mrd. Wenn man diese Werte entsprechend dividiert, ergeben sich für den privaten Strassenverkehr externe Kosten von 7,5 Rappen pro Personenkilometer, für die Schiene 3.0 Rappen. „Kalkül statt Gefühl“ reimt der Professor. Sofern das Kalkül stimmt.
Corona hat uns manche Lektion über die Zuverlässigkeit von Zahlen erteilt. Wir haben gelernt, dass es die absolute Wahrheit nicht gibt. Ebenso wenig gibt es die „echte Kostenwahrheit“. Die Berechnung von externen Kosten beruht auf einem theoretischen Konstrukt, das heisst auf Annahmen, die mangelndes Wissen über exakte Zusammenhänge ersetzen. Im Bericht des ARE, auf den sich Eichenberger bezieht, werden die ausgewiesenen Zahlen immer wieder relativiert. So seien die unter „Klima“ quantifizierten externen Kosten mit grosser Unsicherheit behaftet. Unter „Lärm“ werden körperliche und psychische Folgen mit Hilfe des „sogenannten Werts des statistischen Lebens“ bewertet. Das „sogenannt“ weist darauf hin, dass es hier nicht um exakte Mathematik geht. In Zürich sind gerade zwei geplante Neubesiedlungen an den Lärmschutzbestimmungen gescheitert – das bewirkt externe Kosten, die bis heute nicht erfasst werden.
Die theoretischen Konstrukte für die Ermittlung der externen Kosten und Nutzen des Verkehrs sind in einem fast 600 Seiten schweren Bericht von ECOPLAN zuhanden des ARE dargestellt. Demnach werden die externen Effekte in einem schrittweisen Verfahren ermittelt. Ausgangslage sind die von den Verkehrsträgern zurückgelegten Personenkilometer. Selbst bei dieser Grösse handelt es sich um Schätzwerte. Aufgrund dieser Basis wird die Belastungssituation abgeschätzt, dann sind die resultierenden Schäden zu ermitteln und in einem letzten Schritt zu quantifizierten. Die dafür verwendeten Kostensätze basieren im besten, aber leider seltenen Fall auf Marktpreisen, Alternativen sind der Schadenskosten- oder der Vermeidungskostenansatz. Gerade durch seine Ausführlichkeit zeigt der ECOPLAN- Bericht, in welchem Ausmass Schätzwerte kumuliert werden.
Zwei praktische Fragen
Es gibt keine Kategorie von externen Effekten im Verkehr, über die man je nach Interessenlage nicht endlos streiten kann. Dort, wo es seine Thesen stützt, relativiert auch Professor Eichenberger. Den im Bericht des ARE für den Langsamverkehr ausgewiesenen externen Nutzen (der wesentlich höher ist als die externen Kosten) hat er in einer seiner Kolumnen rundweg als „Schwindel“ bezeichnet.
Zu meiner SBB-Zeit habe ich mich bisweilen an einem frühen Morgen mit Politikerinnen und Politikern auf einem grossen Bahnhof getroffen. Eine gute Stunde lang haben wir dem emsigen Treiben zugeschaut. Dann habe ich sie gefragt: was wäre, wenn alle diese Menschen nicht mit dem Zug fahren würden? Die Lösung der Verkehrsprobleme liegt nicht in sophistischen Zahlenmodellen, sondern in der Beantwortung von zwei praktischen Fragen: Wie werden fossile Treibstoffe ersetzt? Wie kann der Verkehrsfluss auf der vorhandenen Verkehrsinfrastruktur optimiert werden?
Benedikt Weibel