Kolumnen von Benedikt Weibel

Noch nie in der Geschichte

"Berner Bär" 4. April 2020

Mobilität ist mein Lebensthema. Auf eine einfache Formel gebracht, geht es dabei um Bewegungsmuster von Menschen und Dingen in Raum und Zeit. Die Mobilität wurde während Jahrhunderten durch eine maximale Geschwindigkeit von etwa 15 km/h begrenzt. Mit der Eisenbahn änderte sich das dramatisch. Reisezeiten und Transportkosten senkten sich rasant. Das „Dampfross“ wurde zum Symbol für die neue Zeit, die Bahnhöfe zu den Kathedralen des Industriezeitalters. Bereits 1906 prognostizierte die deutsche Allgemeine Automobil-Zeitung: „Das Auto, es will dem Menschen die Herrschaft über Raum und Zeit erobern.“ In der Tat, das Jahrhundert der Eisenbahn wurde durch ein Jahrhundert des Autos abgelöst. Das Auto erfüllte den Traum von der unbegrenzten Mobilität. Es wurde zum „bewegten Ich“, zum „mobilen Zuhause“, zum Statussymbol. Das Flugzeug komplettierte die Palette der Verkehrsmittel und eroberte mit dem Luftraum eine neue Dimension. Höhere Einkommen und reduzierte Arbeitszeiten führten zu einem boomenden Freizeitverkehr.

Seit nunmehr 200 Jahren ist die Mobilität unablässig gewachsen. Bis sich im März 2020 ein Virus weltweit zu verbreiten begann. Man hört nun immer wieder die Formulierung „noch nie seit dem 2. Weltkrieg“. In Bezug auf die Mobilität greift das zu kurz. Ein weltweiter Einbruch der Mobilität, wie wir ihn heute erleben, hat sich in der Geschichte überhaupt noch nie ereignet. Der TomTom Traffic Index verfolgt den Verkehr in 416 Städten in 57 Ländern in Echtzeit. Ob New York, Madrid oder Zürich: die Staus sind weg. Das ist eine Folge reduzierter Wirtschaftstätigkeit und der Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Aber auch veränderter Arbeitsformen.

Langsam dürfen wir uns mit der Frage befassen: was lässt sich aus der Krise lernen?

Benedikt Weibel