Kolumnen von Benedikt Weibel
47 Prozent
"Persönlich" 1. Dezember 2019
Die Zahl schlug ein wie eine Bombe. 47 Prozent der Jobs in den USA sind durch die Digitalisierung bedroht. Das war die Essenz einer Studie, die Carl Benedict Frey und Michael A. Osborne von der Universität Oxford 2013 publiziert haben. Seither findet sich die Zahl in jedem Horrorszenario über die Folgen der Digitalisierung.
Die beiden Ökonomen Volker Teichert und Hans haben die Ergebnisse der Frey/Osborne-Studie auf Deutschland übertragen und dabei, wie sie sich nett ausdrücken, eine „Schwachstelle“ entdeckt. Die Oxford-Ökonomen gehen bei der Automatisierungswahrscheinlichkeit von Berufen aus. Wenn man die Wahrscheinlichkeit nicht auf Berufe, sondern auf Tätigkeiten überträgt, ist Automatisierungswahrscheinlichkeit deutlich niedriger. In Deutschland sind 12 Prozent der Arbeitsplätze mit einer Wahrscheinlichkeit von über 70% automatisierbar, in den USA 9 Prozent. Diese erstaunlich niedrigen Werte erklären sich durch den Umstand, dass sich in vielen Berufen Tätigkeiten finden, die schwer automatisierbar sind. Aufgrund ihrer Analyse kommen Teichert/Diefenbacher zum Schluss, dass insgesamt mit einem Beschäftigungsgewinn zu rechnen sei. Was sich in der jüngeren Vergangenheit bestätigt. 1996 bis 2016 haben in der Schweiz 250'000 Mitarbeitende mit Routinetätigkeiten ihren Arbeitsplatz verloren. Im Gegenzug gewann die Volkswirtschaft aber fast 900'000 Stellen mit Nicht-Routinetätigkeiten. 1930 hat der Grossökonom John Maynard Keynes den Essay „Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“ veröffentlicht. Er prognostizierte, dass die Menschen 2030 im Stande sein würden, ihre materiellen Bedürfnisse mit einem Bruchteil der Arbeitszeit zu befriedigen. In der Diskussion um die Zukunft der Arbeit in der digitalisierten Welt wird Keynes immer wieder zitiert. Auch in einem eben erschienenen Werk eines hoch kotierten Schweizer Ökonomen. Gelesen hat er den Text nicht. Sonst hätte er bemerkt, dass Keynes seine Prognose von zwei Voraussetzungen abhängig gemacht hat: „Keine bedeutenden Kriege und keine erhebliche Bevölkerungsvermehrung.“
Die NZZ bespricht auf einer ganzen Seite das neue Buch „Das Glücksdiktat“. Als Kronzeuge einer Bewegung, die in unzähligen Ratgebern Glücklichsein zu einer Pflicht erklärt und Unglück als persönliches Versagen, wird der amerikanische Psychologe Martin Seligman verunglimpft. Die Autorin wirft ihm gar Unwissenschaftlichkeit vor. Gelesen hat sie ihn nicht. Sein Hauptwerk „Erlernte Hilflosigkeit“ gilt nämlich noch heute als Standardwerk der Psychologie. Am gleichen Tag, an dem die NZZ ihren Verriss publizierte, interviewte „Der Bund“ eine Psychologin über die Probleme von Scheidungskindern. Sie erklärt das Phänomen mittels der Theorie der erlernten Hilflosigkeit.
Wie kommt es, dass Wissenschafter und Medienschaffende derart unreflektiert nachbeten? Und Faktenchecker nichts merken?
Benedikt Weibel