Kolumnen von Benedikt Weibel

Hirntot

"Persönlich" 1. November 2015

Ein Morgenessen ohne Zeitung kann ich mir nicht vorstellen. Da lese ich in der NZZ, fettgedruckt: „Nur Hirntote lesen Zeitungen auf Papier“. Das sagt der Eigentümer der eben eingestellten Pendlerzeitung „Metro“. Ich bin dankbar, immerhin, dass ich als Hirntoter noch eine Zeitung lesen und verstehen kann.

Die Medien kämpfen. Seit Jahren erodiert das Geschäftsmodell. Die Flüchtlingskrise 2015 hat zu einer neuen Front geführt. Extrem nationalistisches und rechtes Gedankengut ist salonfähig geworden. Dazu gehört die Abqualifizierung der Medien als Systemmedien oder der Vorwurf des Lügenjournalismus. Das hat kaum zu Selbstkritik bei den Medien geführt. Immer mehr aber beginnen die einen Systemmedien die anderen Systemmedien zu verunglimpfen. In der Hoffnung wohl, sich des Stigmas des Systemmediums zu entziehen.

Der deutsche YouTuber Rezo (Kennzeichen: blaue Haartolle) hat mit seinem Video „Die Zerstörung der CDU“ Furore gemacht. Er ist nicht hirntot, er liest keine Zeitungen. Bis er neulich vom YouTube-Kanal Space Frogs eingeladen wurde, Boulevardmedien - auf Papier - zu kommentieren. „Wir lesen seit Jahren keine Printmedien mehr, deshalb war manches ein Kulturschock, etwa das abgedruckte Fernseh- und Kinoprogramm.“ Der Beitrag hatte so viel Resonanz, dass sich auch der Deutsche Journalisten-Verband verlautbaren liess und den Beitrag kritisierte. „Das war der Startschuss für ein kollektives Verkacken.“ In einem Essay im „Spiegel“ beklagt sich Rezo, wie er mit wertenden Verben wie „ätzen“, „poltern“, „ranten“, „über etwa herziehen“ verunglimpft wurde. Der Journalistenverband hätte sich schliesslich entschuldigt, aber nur wegen seines Bekanntheitsgrades.

Die NZZ berichtete unter dem positiv wertenden Titel „Macrons Risiko am G-7-Gipfel zahlt sich aus“. Da wird anerkennend berichtet, wie Macron im Vorfeld die Erwartungen gedämpft hatte. Sein diplomatisches Geschick wird gelobt. Gleichzeitig ist der Artikel gespickt mit abwertenden Verben: „Inszenieren“, „brillieren“, „an bürgernahen Gesten zunehmend Gefallen finden“, „Popularität aufpolieren“. Ein klarer Verstoss gegen das Gebot der Trennung von Fakten und Kommentar. Wenig später findet sich im selben Blatt ein ganzseitiger Verriss des „moralischen Journalismus“, der an Selbstgerechtigkeit kaum zu übertreffen ist. Mit einem bevormundenden Gestus und ausgestrecktem Zeigfinger wirft man den „moralischen Medien“ Bevormundung vor. Der dazu passende Kommentar findet sich in der fast 1500 alten Benediktus Regel: „Du siehst im Auge des Bruders den Splitter, aber den Balken in deinem Auge siehst du nicht.“

Lasst das. Macht spannende Zeitungen. Mündige Leserinnen und Leser sind in der Lage, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Es gibt noch Hoffnung. Eben haben eine Unternehmerin und ein Unternehmer die „Berliner Zeitung“ gekauft. Mit der festen Überzeugung: „Für ein Printprodukt wird es immer einen Markt geben.“

Benedikt Weibel