Kolumnen von Benedikt Weibel

Verzicht

"Persönlich" 1. Oktober 2019

Das Wort ist wie eine Demarkationslinie. Für die einen ist es ein Verlust an Freiheit, für die anderen ein durch Selbstkontrolle ermöglichter Gewinn. Letzteres war über lange Jahre der Kern bürgerlicher Erziehung zur Eigenverantwortung. Einer Versuchung zu widerstehen, war eine Tugend. Zum Beispiel Sparen durch Konsumverzicht. Der Psychologieprofessor Walter Mischel entwickelte in den 1960-er Jahren einen Test, um die Selbstkontrolle zu messen. Er stellte Kleinkinder vor die Wahl zwischen einer sofortigen Belohnung (zum Beispiel ein Marshmallow) oder einer grösseren Belohnung (zwei Marshmallows), auf die sie jedoch eine unbestimmte Zeit warten mussten. Wartenkönnen – der Verzicht zugunsten eines sich längerfristig einstellenden Gewinns – definierte er als Mass für die Selbstkontrolle. In seiner Längsschnittstudie – als Marshmallow-Test berühmt geworden – zeigte sich, dass Kinder, die verzichten können, ein erfolgreicheres Leben haben.

Es gehört zum ideologischen Instrumentarium, Begriffe zu vereinnahmen oder sie zu verteufeln. Seitdem die Klimajugend den Verzicht propagiert, ist auch dieses Wort ins Fadenkreuz der Ideologen gerückt. Für jene, die überzeugt sind, dass der Klimawandel mit höchster Priorität bekämpft werden muss, ist der Verzicht unabdingbar. Für jene, die den Klimawandel zwar auch stoppen wollen, aber im Rahmen des Machbaren, ist der Verzicht eine Zumutung. „Konsumverzicht ist keine Option“ ist in einer redaktionell aufgemachten Anzeige zum Thema Nachhaltigkeit im „Magazin“ zu lesen.

Warum sind – wie der Marshmallow-Test beweist – Menschen, die gelernt haben zu verzichten, im Leben erfolgreicher? Weil sie wissen, dass langfristiger Gewinn besser schmeckt als kurzfristiger Erfolg. Man kann mich nicht nur über die doppelte Menge an Marshmallows freuen, sondern auch darüber, dass der Lust nicht nachgegeben wurde. Darum geht es auch in der Klimadebatte. Um die Verantwortung für den ökologischen Fussabdruck. Wenn wir unsere langfristigen Lebensgrundlagen erhalten wollen, kommen wir kaum darum herum, jeder Organisation und jedem Menschen ein Kontingent an CO2-Ausstoss zur Verfügung zu stellen. Wie dieses benutzt wird, ist in eigener Verantwortung zu regeln. Das würde uns zwingen, sorgfältig zwischen Optionen abzuwägen. Das mag sogar zur Einsicht führen, dass es keinen Zusammenhang gibt zwischen der Intensität eines Ferienerlebnisses und der zurückgelegten Distanz.

Vor vielen Jahren, nach einer besonders intensiven Festtagszeit, hatte ich die Idee, im Januar/Februar auf Alkohol zu verzichten. Was ich seither mache. Mit dreifachem Gewinn. Das Gefühl, etwas für die Gesundheit zu tun. Die Gewissheit, dass man der Versuchung widerstehen kann (einmal war es Château Pétrus). Der magische Moment, wenn ich am 1. März den ersten Schluck Bier oder Wein trinke. Es ist eine alte Weisheit: Es ist die grössere Lust, der Lust zu widerstehen, als ihr nachzugeben.

Benedikt Weibel