Kolumnen von Benedikt Weibel
Der Greta-Effekt
"Persönlich" 1. Juni 2019
Der deutsche Historiker Joachim Radkau nennt es „Überraschungsmoment der Geschichte“: ein Ereignis, das niemand vorhergesehen hat und das die Weltgeschichte verändert. Zum Beispiel der Fall der Mauer in Berlin, 9/11, der tunesische Gemüsehändler, der sich selbst verbrannte und den arabischen Frühling auslöste, das Internet, das Smartphone mit seinen sozialen Medien. Deshalb, so Radkau, verlaufe die Geschichte in einer Zick-Zack-Linie.
Am 20. August 2018, ihrem ersten Schultag nach den Sommerferien, ging Greta Thunberg nicht zur Schule, sondern setzte sich mit einem Schild „Schulstreik für das Klima“ vor den Schwedischen Reichstag. Gegen den Willen ihrer Eltern und Lehrer setzte sie ihre Aktion Tag für Tag fort, bis zur Reichstagswahl Anfang September. Der Rest ist ein Überraschungsmoment der Geschichte. Ein 15jähriges Mädchen lanciert eine weltweite Klimabewegung und steht heute auf der Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten des Jahres. Sie ist nicht mehr allein. Überall auf der Welt kämpfen junge, adrett auftretende und meisterhaft mit den Medien umgehende Menschen für einen radikalen Wandel in der Klimapolitik. Ihr Argument ist unschlagbar: es geht um unsere Zukunft. Damit ist ihnen gelungen, das Problem aus dem traditionellen, ideologisch verseuchten Muster zu befreien.
Die Wirkung übertrifft alle Erwartungen. Die SVP verliert Wahlen, die FDP will sich klimapolitisch neu positionieren, Bürgerliche planen eine Flugticketabgabe, Flugscham wird zum Thema auf der Front der NZZ, kantonale Parlamente befassen sich mit der Frage, ob der Klimanotstand ausgerufen werden soll, die Parteipräsidentin und er Parteipräsident von FDP und SVP treffen sich zum Klimagipfel, weil mittlerweile selbst die SVP gemerkt hat, dass die Verhöhnung der jugendlichen Klimaaktivistinnen und –Aktivisten Stimmen kostet.
Es gibt in unserem Land drei grosse schleichende Krisen. Die Klimaveränderung, die Altersvorsorge und das Gesundheitswesen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass man sie in der Vergangenheit immer wieder verdrängt hat und sich durchwurstelt. Wer auf die Brisanz aufmerksam macht, wird als Alarmist abqualifiziert. Beim Klimaschutz könnte sich das nun ändern. Wir müssen der jungen Generation dankbar sein, dass sie uns den Spiegel vorhält.
Vor bald 70 Jahren hat der Maler Hans Erni die Schweiz mit einem Plakat aufgerüttelt. Schwarzer Grundton, eine Hand, die ein Glas hält, gefüllt mit einem Totenkopf, darunter die Parole „Rettet das Wasser“. Die dauernde Verschlechterung der Wasserqualität, Badeverbote im ganzen Land, auch das war eine schleichende Krise, die niemand richtig angefasst hat. Dann ging die Post los. 1962 beschloss der Bund Beiträge an Abwasseranlagen. Bereits 1980 waren 70 Prozent der Gewässer angeschlossen. Hunderte Kläranlagen und Tausende Kleinkläranlagen wurden erstellt. Wir können es! Übrigens: Auch die Altersvorsorge und das Gesundheitswesen sind Probleme der Generation Z.
Benedikt Weibel