Kolumnen von Benedikt Weibel
Lob dem Waldsterben
"Schweiz am Wochenende" 4. April 2019
Ich sehe das Bild noch heute in meinem inneren Auge. Dichtgedrängte Tannen, die nur noch ihre Kronen tragen. Über Ihnen ein Nebel, der sich gegen rechts zu einer dichten Wolke verdichtet. In der oberen Bildhälfte zehn düstere, rauchende Schlote, eines davon rot gefärbten Rauch ausstossend. Im Hintergrund schemenhafte Fabrikgebäude. Dazu zwei Textbotschaften. Unten fett und gross: Der Wald stirbt. Oben kursiv: Saurer Regen über Deutschland.
Das Titelbild des „Spiegel“ 47/1981 zeigt erstmals, dass die Ausbeutung des Planten nicht ein abstraktes Gedankenspiel ist. Nun geht es ums Konkrete, und zwar gleich um die Bedrohung einer unserer wertvollsten Lebensgrundlagen. Das Waldsterben wird zum dominierenden Thema der 1980er Jahre. Bundesrat Alphons Egli schaut besorgt zu den Baumwipfeln, als ihm der Aargauer Oberförster anlässlich eines Medienanlasses des Bundesamtes für das Forstwesen im September 1983 den Ernst der Lage demonstriert. Obwohl die Zeichen für den Laien schwer zu erkennen seien, handle es sich um eine dramatische Entwicklung. Unzählige Bäume seien vom Tod gezeichnet.
Die Lage war so ernst, dass sich die Eidgenössischen Räte im Februar 1985 zu einer Sondersession trafen. Der Nationalrat tagte ganze fünf Tage lag, der Ständerat widmete dem Thema zwei Tage. Arbeitsdokument war eine umfangreiche Botschaft des Bundesrates. Unter den vielen zu behandelnden Bereichen befand sich auch der öffentliche Verkehr mit zwei Themen: Tarifarische Anreize und Verbesserung des Angebotes. Die damalige Generaldirektion der SBB war von der Idee, die Preise zu verbilligen, nicht begeistert. Um Schlimmeres zu vermeiden, schlug sie vor, den Preis des Halbtax-Abos auf 100 Franken zu reduzieren. (Es gab damals zwölf verschiedene Typen von Halbtax-Abos, Erwachsene bezahlten 360 Franken. Insgesamt waren 660‘000 Abos im Umlauf.) Das Parlament genehmigte die Massnahme, inklusive einer Subvention, welche die erwarteten Einnahmenausfälle kompensieren sollte. Die SBB wurden ausserdem beauftragt, dass angedachte Konzept Bahn 2000 für einen massiven Angebotsausbau zur Entscheidungsreife zu bringen.
Das Halbtax-Abo für 100 Franken, 1987 eingeführt, wurde zu einem nie erwarteten Erfolg. Nach nur zwei Jahren waren Zwei Millionen Abos im Umlauf. Die Subvention wurde nach dem ersten Jahr wieder gestrichen. Das Konzept Bahn 2000 wurde im Rekordtempo durch die Eidgenössischen Räte gejagt. Am 6. Dezember 1987 stimmte das Schweizer Volk dem Vorhaben zu. Für 135 Bauprojekte, darunter die Neubaustrecke von Mattstetten nach Rothrist, investierten die SBB 5.9 Mrd. Franken. Für die Bewältigung des zusätzlichen Verkehrs schafften sie zwei neue Zugstypen an, die IC-Doppelstockzüge und die Neigezüge. Am 12. Dezember 2004, morgens um 3 Uhr, wurde der Fahrplan umgestellt. Seither gilt im Grundsatz, dass man mindesten jede Stunde von überall nach überall fahren kann, in den meisten Relationen jede halbe Stunde.
Ohne das Waldsterben wäre der öffentliche Verkehr in der Schweiz nicht das, was er heute ist. Die SBB befanden sich Anfang der 1980er Jahre in einer tiefen Depression. Sie hatten sich vom Einbruch des Güterverkehrs im Gefolge der Erdölkrise von 1973 nie erholt, produzierten riesige Defizite und steuerten einer ungewissen Zukunft entgegen. Die Sondersession Waldsterben und die daraus resultierenden Aufträge der Eidgenössischen Räte gaben den SBB ihre Zukunft zurück.
Benedikt Weibel