Kolumnen von Benedikt Weibel
Pfaffenhütchen-Gespinstmotte
"Schweiz-Das Wandermagazin" 1. Mai 2019
Seit Jahren gehe ich wann immer möglich über Mittag spazieren. Immer der gleiche Rundkurs auf einem autofreien Weg mit einem wunderbaren Blick auf die Alpenkette. Ich hänge meinen Gedanken nach und verfolge den Lauf der Jahreszeiten. Vor zwei Jahren habe ich bemerkt, wie im Frühling in einer Buschgruppe einzelne Blätter von einem feinen Netz überzogen wurden. Die Netze wurden mit jedem Tag undurchdringlicher und Ende Mai war der gesamte Strauch in ein Gespinst eingepackt. Das war das Werk Tausender zentimetergrosser Raupen, welche sich mittlerweile sämtliche Blätter des Strauches einverleibt hatten. Plötzliche verschwanden die Raupen und das Gespinst, die Blätter begannen wieder zu spriessen. Mitte Juli waren die Sträucher wieder satt grün. Im nächsten Jahr dasselbe Schauspiel. Nun begann der Angriff der Raupen bereits im April, Anfang Mai hatten sie die Sträucher leergefressen. Wieder erholten diese sich in wenigen Wochen. Erwartungsfroh machte ich mich in diesem Frühling auf den Weg und verfolgte das Wachstum der Blätter. Im April waren sie voll ausgebildet und im Mai entdeckte ich erste kleine Netze. Doch offensichtlich hatte die Raupeninvasion an Kraft verloren oder die Sträucher an Stärke gewonnen. Schon im Mai waren die Netze verschwunden, der Strauch strotzte vor Blattgrün. Im September entdeckte ich erstmals einige kleine rote Früchte am Strauch. Ich ging nahe dran und sah, dass es Pfaffenhütchen waren. Kindheitserinnerungen tauchten auf. Damals hatten die Mädchen Pfaffenhütchen in ihre Haarkränze eingeflochten.
Nun hilft mir das Internet. Der Strauch heisst „Gewöhnlicher Spindelstrauch“. Seine Frucht, das Pfaffenhütchen, wurde 2006 zur Giftpflanze des Jahres gewählt. Ich finde des Rätsels Lösung: „Der Spindelstrauch wird häufig von den 2 cm langen, gelblichen, schwarz gepunkteten Raupen der Pfaffenhütchen-Gespinstmotte befallen. Der befallene Strauch ist dann in ein dichtes Gespinst eingehüllt, in dem die Raupen die Blätter fressen. Zur Bekämpfung des Schädlings werden die befallenen Äste herausgeschnitten und der Strauch mit einem Insektizid behandelt.“
Aus dieser kleinen Begebenheit kann man zwei Dinge lernen. Wer den Blick hat, der erkennt das Spektakuläre in seiner unmittelbaren Umgebung. Und es braucht keine Insektizide. Die Natur hat eine enorme Selbstheilungskraft.
Benedikt Weibel