Kolumnen von Benedikt Weibel

Klammheimlich Freude

"Persönlich" 1. Mai 2019

Endlich hängt der Skalp des „Spiegel“. Claas Relotius sei Dank. Ihre klammheimliche Freude können viele, die nun über den „Spiegel“ herfallen, kaum verstecken. Genüsslich lässt sich der CEO von Springer in einem Interview mit der NZZ über eine „Haltung des juste Milieu“ aus. Dabei haben auch die „Welt“ und verschiedene NZZ-Medien Artikel von Relotius publiziert.

Eben noch hat die NZZ berichtet, wie das Geschichtenerzählen in der Unternehmungskommunikation Eingang gefunden hat. Das sei das zeitgemässe Mittel, um Aufmerksamkeit zu gewinnen. „Erzählt Landwirt Werner Gsell von der eingestürzten Schutzkonstruktion über seinem Kirschbaum...“ - wird eine Versicherungsgesellschaft als beispielgebend für eine ins Herz gehende Kommunikation zitiert. Geschichte, Story, Narrativ: Die Karriere dieses Wortes zeugt von seinem unaufhaltsamen Aufstieg.

Nun heisst es plötzlich: „Welchen Schaden richtet Storytelling aus?“ Der 89jährigen Hans Magnus Enzensberger (HME) wird als Kronzeuge bemüht. Vor 62 (!) Jahren hat der mit seinem Essay „Die Sprache des Spiegel“ einen Nagel eingeschlagen. Das liest sich immer noch gut. Er kritisiert, der „Spiegel“ habe keine Haltung, bloss „eine Ideologie der skeptischen Allwissenheit“. Der „Spiegel“, sein Fazit, ist kein Nachrichtenblatt, sondern eine Sammlung von Stories. Die würden sich durch Trübung des Sachverhalts, Vorurteile und eine angestrengte Humorigkeit auszeichnen. Wie in einer Titelgeschichte über einen Schlagersänger, der sich auf der Bühne bewegt, „als hätte er einen Presslufthammer verschluckt“. Allerdings sei der „Spiegel“ unentbehrlich, er sei das einzige Medium, das keinerlei Rücksicht auf Interessenverbände, Ministerialbürokratien und Funktionäre nehme.

Dabei macht der „Spiegel“ nur das, was schon die Verfasser der Bibel taten. Auch sie erzählten Geschichten, um in die Seele der Lesenden einzudringen. Was HME entgangen ist, ist der Riecher des „Spiegel“ für neue Phänomene und Trends. Der Schlagersänger in der Titelgeschichte war Elvis Presley. Der „Spiegel“ hat das Neue, ja Revolutionäre gespürt, HME nicht. Dieser Riecher zeichnet den „Spiegel“ bis heute aus. Die Essenz einer Titelgeschichte über Martin Winterkorn, damals CEO von Volkswagen, war ebenso kurz wie deutlich: „Volkswagen ist Nordkorea minus Arbeitslager“. Wer den Artikel gelesen hat, wurde zwei Jahre später vom Dieselskandal nicht überrascht. Die Titelgeschichte „Die Weltregierung – Wie das Silicon Valley unsere Zukunft steuert“ ist im Februar 2015 erschienen. Es war die erste umfassende Darstellung über die Digitalisierung der Welt. Der erste Satz ein Kracher: „Nach allem, was man weiss, Ist Travis Kalanick, Gründer und Chef von Uber, ein Arschloch.“

Auch der Chefredaktor der NZZ liebt die Story, sein Vorbild ist Karl May: „Im wilden Westen steigt jeder Held irgendwann zum letzten Mal auf sein Pferd und reitet in den Sonnenuntergang. Auch im milden Westen, in der Bundesrepublik, bricht für Angela Merkel jetzt der Sonnenuntergang an.“

Benedikt Weibel