Kolumnen von Benedikt Weibel

Service Public: Schafft den Begriff ab!

"Schweiz am Wochenende" 20. Oktober 2018

Die Römer erkannten als erste den Wert einer öffentlichen Infrastruktur. Sie bauten Strassen. Seither ist der Bau und Unterhalt von Strassen als öffentliche Aufgabe anerkannt. Mit dem Aufkommen der Eisenbahn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Transportwesen revolutioniert. Die Gemeinwesen begriffen, dass ein Anschluss an das Bahnnetz von vitalem Interesse war. Nach der Gründung des Bundesstaates im Jahre 1848 wurde intensiv darüber gestritten, ob die Bahn privat oder vom Staat gebaut und betrieben werden sollte. Der Zürcher Nationalrat Alfred Escher kämpfte für die private Bahn und setzte sich durch. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts steckten aber die meisten Schweizer Bahnen in so grossen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, dass der Staat eingreifen musste. 1898 stimmte das Schweizer Volk der Verstaatlichung der fünf grossen Privatbahnen zu. Vier Jahre später nahmen die SBB den Betrieb auf.

Im Gegensatz zur Bahn war die Verstaatlichung der Post nicht kontrovers. Die Konzessionserteilung an adelige oder aristokratische Familien, die Monopolgewinne einsackten, war im modernen Staat nicht mehr zu rechtfertigen. Bei der Verfassungsrevision 1874 wurde dem technischen Fortschritt Rechnung getragen und das Telegrafenwesen neu der Schweizerischen Post zugewiesen. Vier Jahre später kam die Telefonie dazu.

Dass PTT und SBB für die Versorgung des Landes unabdingbare Leistungen erbringen, hatte über Jahrzehnte kaum zu Diskussionen Anlass gegeben. Das änderte sich in den 1990er Jahren. Privatisierung und Deregulierung wurden weltweit zum Programm, dem sich auch die Schweiz nicht entziehen konnte. Nun tauchte in der Deutschschweiz das Wort Service Public auf, ein eigentlicher Kampfbegriff als Chiffre für öffentliche Aufgaben, die man nicht der profanen Privatwirtschaft überlassen durfte. Die unzähligen seither geführten Debatten haben eines gezeigt: Der Begriff zeichnet sich durch maximale Unschärfe aus.

Wesentlich präziser sind die beiden Begriffe Grundversorgung und Infrastruktur. Die Grundversorgung hat die Bedürfnisse der Einwohnerinnen und Einwohnern im Blick, die Infrastruktur jene des Landes, der Region oder der Gemeinde. Bei der Grundversorgung geht es um Güter und Dienstleistungen, bei der Infrastruktur um die Werke, welche diese erbringen. Dabei handelt es sich um so verschiedene Bereiche wie Strassen, Eisenbahnstrecken, Häfen, Flughäfen, Versorgung mit Wasser, Strom, Gas und Fernwärme, Telekominstallationen, postalische Leistungen, Verkehrsangebote, Landwirtschaft, Spitäler, Kläranlagen, Schulen, Hochschulen, Kinderkrippen, Radio- und Fernsehprogramme, Museen, Theater, Opernhäuser, Schwimmbäder, Fussballstadien, Messehallen.

Grundversorgung und Infrastruktur wandeln sich im Lauf der Zeit, weil sich die Bedürfnisse, die Märkte und die Technologie verändern. Deshalb müssen sie immer wieder in Frage gestellt werden. Sind die Güter, Dienstleistungen oder Werke notwendig? Werden sie vom freien Markt in ausreichender Menge und Qualität bereitgestellt? Wenn nein: Wer soll dafür verantwortlich sein? Wer zahlt und wieviel? Sind Steuergelder einzusetzen? Wie wird die Leistungserbringung kontrolliert?

Ein aktuelles Beispiel ist unsere touristische Infrastruktur. Es waren private Investoren, die eine Jungfraubahn gebaut und betrieben haben. Mit dem Aufkommen des Wintersports begannen sich auch die Tourismusorte um ihre Infrastruktur zu kümmern. Dabei ging man immer davon aus, dass Investitionen und Betrieb von den Benutzern bezahlt werden. Nun zeigt sich, dass dieses Geschäftsmodell erodiert, weil der Klimawandel die Schneedecken schmelzen lässt und die Beliebtheit des Skifahrens abnimmt. Die Lösung für Andermatt, Saas Fee und Montana sind ausländische Investoren. Was das heisst, konnte man im letzten Winter in Montana feststellen, als der Investor vor Saisonende die Anlagen stilllegte. Die Gemeinde zahlte, und die Seilbahnen fuhren wieder. Der Tourismus kommt nicht umhin, sich der Frage der Grundversorgung und der dafür notwendigen Infrastruktur zu stellen.

Die Ausgestaltung von Grundversorgung und Infrastruktur ist das Resultat politischer Prozesse, an denen Exekutiven, Legislativen und oft auch das Volk beteiligt sind. So haben Kanton und Stadt Zürich früh erkannt, dass die Verkehrsinfrastruktur der steigenden Mobilität angepasst werden muss. Sie liessen in den 1950er Jahren ein Konzept für eine U-Bahn erarbeiten. Das Vorhaben scheiterte 1962 an der Urne. Sein Nachfolgeprojekt, eine Kombination von U-Bahn mit einer S-Bahn wurde ebenfalls abgelehnt. 1981 schliesslich wurde das Projekt einer S-Bahn angenommen. Heute kann man sich Zürich ohne S-Bahn nicht mehr vorstellen.

Das Beispiel zeigt, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der Infrastruktur und der Wettbewerbsfähigkeit einer Region gibt. Niemand hat das besser verstanden als China. 1991 war das chinesische Bahnnetz 53‘000 km lang. Heute ist es auf über 120‘000 km angewachsen. China folgt einer globalen Strategie, in deren Zentrum die Infrastruktur steht. Überall in der Welt wird in Eisenbahnlinien, Häfen und Stromnetze investiert.

Die Tatbestände der Grundversorgung und der Infrastruktur sind derart vielfältig, dass sich nichts über den gleichen Kamm scheren lässt. Das zeigen schon die drei grossen Bundesbetriebe. Die Post leidet unter einem unaufhaltsamen Rückgang der Briefpost, einem überholten Geschäftsmodell bei Post-Finance und einer harten Konkurrenz in der Logistik von Klein- und Expressgütern. Die Swisscom muss einen permanenten technologischen Wandel bewältigen und hat sich in vielen Geschäftsbereichen weit von der Grundversorgung entfernt. Am einfachsten haben es die SBB. Die Eisenbahn ist das beste Transportmittel für den Transport grosser Mengen. „Die Zukunft gehört dem Zug“, hat der „Spiegel“ unlängst getitelt. Ob es allerdings noch Sinn macht, in unseren engen Verhältnissen Einzelwagen im Güterverkehr zu transportieren, kann bezweifelt werden.

Philosophieren über den Service Public liefert keine einzige Antwort. Entsorgen wir den Begriff!

Benedikt Weibel