Kolumnen von Benedikt Weibel

Hemmige

"Persönlich" 1. September 2018

Mani Matter textete und komponierte das Lied vor fast fünfzig Jahren. Stephan Eicher machte es zum Hit. Im Pariser Olympia sangen Tausende aus vollen Kehlen Emmige. Seither wurde es unzählige Male gecovert. Das liegt an der eingängigen Melodie, aber ebenso am doppelbödigen Text. Hemmungen können zwar blockieren, insgesamt aber, so Mani Matter, sind sie ein Segen für die Menschheit. Nur die Hemmungen retten uns vor der Selbstzerstörung.

Heute müsste Mani Matter seinen Text umschreiben. Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass Hemmungslosigkeit zu einem neuen Megatrend geworden ist. Dazu haben die sozialen Medien beigetragen, aber auch ein neuer Typus von Politiker. Das wird nicht ohne gesellschaftliche Auswirkungen bleiben. Über Generationen haben Eltern, Lehrerinnen und Lehrer versucht, Kindern einige Verhaltensweisen mit auf den Lebensweg zu geben. Es gab einen kaum diskutierten, intuitiven Konsens über die wesentlichen Inhalte: Anstand, Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft, Rücksichtnahme, Ehrlichkeit, Grosszügigkeit, Bescheidenheit, Respekt, Selbstbewusstsein. All diese Eigenschaften sind gesellschaftsorientiert. Dahinter stand die Überzeugung, dass man mit diesen Tugenden am besten durchs Leben kommt.

Seit den Zeiten Mani Matters hat sich noch ein anderer Trend breitgemacht: die Individualisierung der Gesellschaft. Plötzlich wirken die alten Werte altmodisch. In den USA, auch in Deutschland und anderswo zeigt sich immer drastischer, wie eine enthemmte Ego-Gesellschaft mit ihren „sozialen“ Medien die bisher geltenden Massstäbe auslöscht. Gestritten wird immer weniger, dafür werden Andersdenkende im besseren Falle angepöbelt, im schlechteren mit Hohn, Hass und Drohungen eingedeckt. In der Sprache sind alle Hemmungen abgelegt worden. Da werden die Naziverbrechen zum „Vogelschiss in der erfolgreichen deutschen Geschichte“, auf die deutsche Wehrmacht im zweiten Weltkrieg darf man wieder stolz sein. Es fehlt nur noch die Revitalisierung der Ideologie der Herrenrasse der Arier. Die Hemmungslosigkeit beschränkt sich nicht auf die Sprache. Wo man früher noch sein Gesicht verhüllt hat, steht man heute offen zu seiner radikalen Gesinnung. Dadurch werden die Fundamente der Demokratie unterspült, und es entwickelt sich ein Klima der Aggression und der Spaltung.

Wie wirken Vorbilder wie der mächtigste Mann der Welt, der ohne jede Hemmung jeden Tag Tweeds der übelsten Sorte absetzt und selbst seine engsten Mitarbeiter öffentlich demütigt? Oder wie der russische Präsident, der während der Pokalübergabe an der Fussballweltmeisterschaft sein Modell von Gastfreundschaft zelebriert: er selber gut beschirmt, sein Gast im strömenden Regen. Was bedeutet das für die Erziehung? Soll den Kindern immer noch soziales Verhalten beigebracht werden oder muss man sie so früh wie möglich auf eine rücksichtslose Ellbogengesellschaft vorbereiten? Mani Matter meinte, Hemmungen würden uns vom Schimpansen unterscheiden. Wenn wir nicht Sorge tragen, nähern wir uns wieder den Primaten an.

Benedikt Weibel