Kolumnen von Benedikt Weibel
Digitalisierungskakophonie
"Persönlich" 1. April 2018
Schon bei der Morgengymnastik konfrontiert mich das deutsche Morgenfernsehen mit riesigen, heuschreckenartigen Robotern, die durch menschenleere Fabrikhallen staksen. In der Zeitung verfolgt mich die Digitalisierung von der ersten bis zur letzten Seite. Werden sich Bitcoins durchsetzen, oder zumindest die Blockchain? Werden Regierungen durch Algorithmen ersetzt? Wird die künstliche Intelligenz zum Feind? Ein fertig ausgebildeter Roboter ist in der Lage, andere Roboter zu instruieren. Ab 2025 setzen sich selbstfahrende Autos durch. Wolfgang Müller-Pietralla, der Leiter der Abteilung Zukunftsforschung bei Volkswagen warnt, sich allzu früh festzulegen. Der Faktor Zeit werde überschätzt ...
Da soll man sich zurechtfinden? Kaum ein Thema, zu dem sich nicht zwei konträre Meinungen ausgewiesener Experten finden lassen. Die einen sind überzeugt, dass die Zukunft in der Sharing Economy liegt. Andere wissen, dass sich Sharing Economy nie durchsetzt. Die Meinungen widersprechen sich auch diametral, wenn es ums grosse Ganze geht. Es ist erstaunlich, wer sich alles zum Experten für die neue Welt macht. Zum Beispiel Philipp Blom, ein Historiker, der mit „Der taumelnde Kontinent“ ein herausragendes Buch geschrieben hat. Nun gibt er sich als Zukunftsexperte und schreibt in seinem neusten Buch „Was auf dem Spiel steht“ die Apokalypse herbei. Wer sich die Zukunft voller kreativer, interaktiver und interessanter Arbeit vorstelle, während die monotonen und gefährlichen Arbeiten von Robotern ausgeführt werden, irre sich gewaltig. Auch hochwertige Arbeit werde in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten automatisiert. Deshalb sein resignierendes Fazit: „In einer Gesellschaft, in der menschliche Arbeit obsolet ist, sind auch die Menschen obsolet.“
Wer ob derartiger Aussichten in eine Depression zu fallen droht, lese den „Spiegel“. Im Artikel „Dumm wie ein Sieb“ denunziert er die künstliche Intelligenz. Schach oder Go spielende Maschinen seien bloss von „beschränktester Fachidiotie“. Nirgendwo sei in diesen Apparaten echte, eigenständig agierende Intelligenz versteckt. Wenn man auf dem 19 mal 19 Felder des Go-Bretts eine Reihe entfernen würde, wäre das Programm hilflos. Der Hype um die künstliche Intelligenz sei nur entstanden, weil man das Lernen falsch verstehe. Maschinelles Lernen funktioniere grundsätzlich anders als menschliches Lernen. Dieses erschliesse neue Welten, während maschinelles Lernen nur funktioniere, wenn es genügend Vergangenheitsdaten zum Trainieren gibt. In überschaubaren Spielwelten mit fixen Regeln seien die Maschinen dem Menschen überlegen. Im richtigen Leben sei aber alles offen, da sei auch der intelligenteste Computer nur beschränkt einsetzbar. Deshalb seien Voraussagen jeglicher Art über den Vormarsch menschenähnlicher Intelligenz bis auf weiteres sinnlos.
Die beste Antwort auf die Frage, wie man mit dieser existenziellen Unsicherheit umgeht, stammt von der Schriftstellerin Juli Zeh: „Die Antwort ist Gegenwartsliebe. Es ist die einzige Antwort. Aber auch eine sehr gute.“
Benedikt Weibel