Kolumnen von Benedikt Weibel

Der neue Blick

"Wandermagazin SCHWEIZ" 1. Mai 2017

Reinhard Karl war ein hervorragender Alpinist. Er kletterte zum ersten Mal den VII. Grad in einer alpinen Route. 1978 stand er als erste Deutscher auf dem Gipfel des Mount Everest. Vier Jahre später starb er in seinem Zelt im Hochlager am 8188 Meter hohen Cho Oyu in einer Eislawine. Mindestens so stark wie in Fels und Eis war Reinhard Karl mit dem Fotoapparat und der Feder. Sein Buch Zeit zum Atmen ist noch heute Kult und kostet auf dem Antiquitätenmarkt gegen 100 Euro. Im Kapitel Der neue Blick beschreibt Karl, wie er im Yosemite Nationalpark in Kalifornien zum Freikletterer wurde. Früher hat er sich, wie damals üblich, an Felshaken hochgezogen oder Trittleitern verwendet, was in der neuen Bewegung verpönt ist. Er beschreibt, wie er nun den Fels neu entdeckt. Es ist "eine Reise in die Mikrowelt. Eine Felsfläche nach kleinsten Griffen und Tritten absuchen." Eine jahrzehntelang ausgeübte Sportart hat damit eine völlig neue Dimension erhalten.

Seit ich zum Spaziergänger und Wanderer geworden bin, denke ich oft an den neuen Blick. Ich versuche, wie wir das vor Jahrzehnten am Fels getan haben, eine neue Intensität im Mikrokosmos zu entdecken. Wenn immer möglich mache ich über Mittag denselben kleinen Spaziergang. Vor einem Jahr habe ich dabei eine Gruppe von Büschen entdeckt, vollständig von dichten Netzen eingepackt, die Blätter abgestorben. Beim näheren Hinsehen entdeckte ich Zehntausende kleiner Raupen, die dieses Werk geschaffen hatten. Mitte Sommer trugen die Büsche wieder sattes Grün. Dieses Frühjahr freute ich mich auf meine Büsche. Ich entdeckte, wie sie jeden Tag grüner wurden, bis sich eines Tages wieder erste Ansätze von Netzen bildeten. Eine Woche später war die Invasion vollbracht, wieder hatten Zehntausende Raupen die Büsche mit ihren feinmaschigen Netzen verpackt und sämtliche Blätter gefressen. So erlebe ich in meiner unmittelbarsten Umgebung die Intensität des Mikrokosmos und freue mich daran.

Benedikt Weibel