Kolumnen von Benedikt Weibel
Das süsse Gift der Anarchie
"Persönlich" 1. September 2017
Die linke Bewegung ist seit Jahrhunderten von zwei Strömungen geprägt: der traditionalistischen und der antiautoritären. Die Traditionalisten haben ein klares Programm: Vergesellschaftung der Produktionsmittel, zentrale Planung und Diktatur des Proletariats. Seit der Implosion der sozialistischen Gesellschaften sind sie auf dem Schrottplatz der Geschichte gelandet. Die Antiautoritären basieren auf dem Prinzip der Anarchie. Sie lehnen jede Struktur und jede Unterordnung ab. Ihre Zukunftsvorstellungen sind vage. Sind einmal die Herrschaftsverhältnisse beseitigt, wird sich eine gerechte Gesellschaft von selber einstellen. Ihr Instrument zur Sprengung dieser Fesseln ist die Propaganda der Tat. Das waren nicht zuletzt terroristische Aktionen, weshalb der Begriff „Anarchie“ immer noch mit der Bombe in Verbindung gebracht wird.
Es ist erstaunlich, dass der Begriff trotz dieses zwiespältigen geschichtlichen Hintergrunds vielerorts immer noch positiv belegt ist. Ein Aufbruch durch Sprengung der Fesseln bleibt eine attraktive Vision. Die Elite im Silicon Valley nennt sich zwar „libertär“, ihr Programm ist aber durch und durch anarchistisch: Gegen den Staat, gegen Steuern. Auch die Propagandisten neuer Organisationsmodelle haben ihre Begrifflichkeit angepasst. Sie nennen ihr weitgehend hierarchiefreies Modell unverfänglich „Holocracy“.
Kürzlich ist mir ein alter Text in die Hände geraten. Er stammt von der amerikanischen Feministin Jo Freeman, wurde in den 1970iger-Jahren geschrieben und ist sinnigerweise auf der Webpage anarchismus.at abrufbar. Sein Titel: „Die Tyrannei der unstrukturierten Gruppen“. Freeman analysiert messerscharf: „Eine ‚laisser faire’ Gruppe ist ungefähr so realistisch wie eine ‚laisser faire’ Gesellschaft; die Idee wird zu einem Nebelschleier, hinter dem die Starken oder Glücklichen unbefragt die Vorherrschaft über andere etablieren.“ In einem Abschnitt über die Natur des Elitismus definiert sie „Elite“ als eine „kleine Gruppe von Leuten, die über eine grössere Gruppe, von der sie ein Teil ist, Macht ausübt.“ Die Idee der Strukturlosigkeit habe das „Star- System“ hervorgebracht. Die Stars würden – ohne Auftrag und Verantwortung – die unstrukturierten Gruppen vollständig beherrschen.
Jo Freeman hat offensichtlich ihre persönlichen Erfahrungen in vordergründig unstrukturierten feministischen Gruppen verarbeitet. Ihr Befund, dass formale Strukturlosigkeit zu informalen Hierarchien und sich selbst formierenden Eliten führt, ist auch vierzig Jahre später noch von höchster Relevanz. Er ist ein Schlüssel zum Verständnis einer weit verbreiteten Aversion gegenüber Eliten, die unter der Oberfläche ohne demokratische Kontrolle grossen Einfluss nehmen. Die Argumentation eines kürzlich in der NZZ erschienenen Artikels „Die Hasser und die Heuchler“ über die internationale Wirtschaftselite weist jedenfalls erstaunliche Parallelen auf. Die Affiche der Strukturlosigkeit ist verführerisch. Hüten wir uns vor ihren Folgen.
Benedikt Weibel