Kolumnen von Benedikt Weibel
Des Kaisers neue Kleider
"Persönlich" 1. Dezember 2017
Wenn unser Finanzchef vor einer parlamentarischen Kommission den Mechanismus eines Cross Border Leases von Lokomotiven erklärte, ging er nach dem Zwiebelschalenprinzip vor. Zuerst wies er darauf hin, dass auch die Swissair ihre Flugzeuge mit dieser Methode finanziere und damit erhebliche Einsparungen realisiere. Der Bezug auf die damalige Ikone der Schweizer Wirtschaft war schon ein Freipass. Nun begann er mit der nächsten Schale und erklärte die Grundbegriffe: Investor, Lessor, Trust. Damit war die Basis gelegt für eine weitere Schale, die Beschreibung der Transaktion und dann, immer komplexer, die Vertragsverhältnisse. Ich beobachtete derweil die Gesichter der Ständerätinnen und Ständeräte. Der Reihe nach meldeten sie sich innerlich ab. Am längsten widerstand der Ständerat aus Schaffhausen, immerhin gelernter Rechnungsrevisor, aber auch er streckte nach der dritten Schale die Waffen. Niemand wagte es zuzugeben, dass sie nur Bahnhof verstanden. Fragen gab es keine.
Das Zwiebelschalenprinzip ist hervorragend geeignet, einen Gegenstand so undurchschaubar darzustellen, dass jede Diskussion im Keim erstickt wird. Ein Beispiel: Der Vergütungsbericht einer Grossbank. Da wird auf über 50 Seiten erläutert, wie man eine Vergütung zu einem Objekt höherer Mathematik entwickelt. Lassen Sie sich folgenden Abschnitt auf der Zunge vergehen: „Ein Mitglied der Konzernleitung gilt als UK Material Risk Taker (MRT) und hat eine UK Senior Management Function (SMF) inne. Daher erhält es neben seinem Grundgehalt eine rollenbasierte Zulage. Diese Zulage spiegelt den Marktwert dieser spezifischen Rolle wider und wird nur solange ausgerichtet, wie das Konzernleitungsmitglied als MRT gilt. Eine solche Zulage verändert das Verhältnis zwischen fixer und variabler Vergütung und stellt keine Erhöhung der Gesamtvergütung dar. Die Zulage besteht aus einem Baranteil sowie einer Zuteilung von gesperrten Aktien, die jährlich gewährt wird.“ Alles klar?
Das ist alles noch harmlos im Vergleich zu den Reden, sie Sie an Vernissagen moderner Kunst zu hören kriegen. Auch da betrachte ich die Gesichter der Eingeladenen. Die Menschen geben sich interessiert und sachkundig, sonst würde man ja als Kulturbanause durchgehen. Trotzdem schleicht sich nach und nach eine gewisse Konfusion in ihre Mymik. Der mit der Goldenen Palme von Cannes gekrönte Film Square nimmt die Kunstszene grossartig auf die Schippe. Zum Auftakt bittet die Journalistin den Kurator Christian (schmaler Anzug, weisses Hemd, dicke Hornbrille, Teslafahrer) um die Interpretation einer Passage der Webseite des Museums: „Ausstellung/Nicht- Ausstellung. Ein Gespräch über die Dynamik des ‚Ausstellbaren‘ und die Konstruktion von Öffentlichkeit im Geiste von Smithsons site/nonsite. Von Kunstort zu Objekt, von Nicht-Ausstellung zu Ausstellung, was ist der Topos von Ausstellung/Nicht-Ausstellung in den überlaufenden Momenten von Mega-Ausstellungen?“ Der Kurator windet sich. Es ist nicht zu verbergen. Der Kaiser ist nackt.
Benedikt Weibel