Kolumnen von Benedikt Weibel

Stolpern

"SUVA Kundenmagazin" 1. Oktober 2017

Es ist ein grossartiges Gefühl, wenn man nach einer schweren Tour auf dem Gipfel steht. Früh habe ich gelernt, dass man diese Freude zügeln muss. Es kommt noch der Abstieg, und der ist immer gefährlich. Wenn man dann endlich die Gefahrenzone hinter sich hat und das Seil aufrollt, ist es noch nicht vorbei. Immer wieder habe ich erlebt, dass ich beim weiteren Absteigen gerade von dem Moment an gestolpert bin. Warum? Die Konzentration ist weg, man beginnt sich auf das kalte Bier zu freuen und hängt seinen Gedanken nach.

Wandern ist der beliebteste Volkssport. Gesund, erholsam, inspirierend - und gefährlich. 2015 sind beim Wandern sind 64 Menschen tödlich verunfallt, das entspricht ziemlich genau einem Viertel der tödlich Verunfallten auf den Schweizer Strassen. Kein Zweifel: Wandern ist statistisch gesehen die gefährlichste Sportart überhaupt. Auslöser eines Unfalles beim Wandern sind praktisch immer Stolpern oder Rutschen. Die Risikofaktoren sind Sorglosigkeit, Ablenkung und mangelnde Sensibilität gegenüber den Gefahren der Bergwelt. Nasses Gras und Schneefelder sind überaus heimtückisch.

Ich bin ein leidenschaftlicher Spaziergänger. Ich freue mich an der Natur und hänge meinen Gedanken nach. Immer wieder schreibe ich Ideen auf, die mir durch den Kopf gegangen sind. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich dabei einmal gestolpert und gestürzt bin, auf einem geraden, planierten Weg.

Der Befund ist klar. Das Entscheidende spielt sich in unserem Hirn ab. Wenn ich weiss, dass Gefahr droht, dann bin ich voller Konzentration. Wenn ich sorglos bin und mich ablenken lasse, dann passiert es. Besonders gefährlich sind spontane, hastige Bewegungen. Das Risiko steigt mit zunehmendem Alter. Als junge Bergsteiger lernten wir zuerst die Disziplin „Gehen im weglosen Gelände“. Gut war, wer sich möglichst lautlos bewegte. Im vorgerückten Alter sollte man sich an die alten Bergführer halten. Deren Markenzeichen sind die Gemächlichkeit und die Regelmässigkeit.

Benedikt Weibel