Kolumnen von Benedikt Weibel
Vom Schutzengel verlassen
"Schweiz am Wochenende" 6. Mai 2017
George Herbert Leigh Mallory war der beste britische Bergsteiger seiner Zeit. Als er Anfang letztes Jahrhundert gefragt wurde, weshalb er auf den Mount Everest wolle, antwortete er "weil er da ist". Für Menschen, die gewohnt sind, auf dem festen Boden zu stehen, ist es kaum nachvollziehbar, weshalb man sein Leben auf hohen Bergen aufs Spiel setzt. Am 8. Juni 1924 verliess Mallory in aller Frühe das letzte Hochlager, um als Erster den höchsten Berg der Welt zu ersteigen. Auf einer Höhe von 8500 Metern wurden er zum letzten Mal gesichtet, bevor er im Nebel verschwand, Seine Kameraden warteten vergeblich auf seine Rückkehr. Jahrelang geisterten Mythen herum, nach welchen Mallory den Gipfel erreicht habe und beim Abstieg verschollen sei. Erst 1999 wurde seine Leiche auf 8150 Metern entdeckt.
Die klassischen Alpinisten hatten es einfach. Ihr Ziel war die erste Besteigung möglichst hoher oder spektakulärer Gipfel. Dann folgten die grossen Wände. Das war für die breite Öffentlichkeit leicht zu verstehen. Es waren aber weniger die Gipfelerfolge als die Dramen, die sich am Berg abspielten, welche die grossen Schlagzeilen produzierten. Das monumentale Wandgemälde von Ferdinand Hodler, das heute im alpinen Museum in Bern hängt, zeigt nicht die Männer nach der Erstersteigung auf dem Gipfel des Matterhorns, sondern stürzende Körper in der Wand. Der Film über die Eiger Nordwand, der eben erst die Kinosäle füllte, handelt nicht vom der ersten Durchstieg, sondern vom Drama, als Toni Kurz in Griffweite seiner Retter am Seil hängend verstarb.
Jede künftige Generation musste neue Ziele definieren, was mit zunehmenden Erschliessung der Bergwelt immer schwieriger wurde. Die heutigen Profis sind auf Sponsoren angewiesen, und die Sponsoren auf Geschichten, die vermarktbar sind. Das ist in einem Bereich, der sich dem Vorstellungsvermögen der meisten Menschen entzieht, ein schwieriges Unterfangen. Eine neue Route am Trango Tower im Karakorum ist eine grossartige alpinistische Leistung, aber für eine breite Öffentlichkeit kaum von Interesse.
Ueli Steck war in zweierlei Hinsicht ein Pionier. Er trainierte seine Physis wie nie zuvor eine Alpinistin oder ein Alpinist, mit der Methodik und Konsequenz der weltbesten Marathonläufer. Und er erfand eine neue alpine Disziplin, das Speedklettern. Sein Schauplatz war die berühmteste und berüchtigste Wand der Welt, die Eiger Nordwand. Als er die 1800 Meter hohe Wand in 2 Stunden und 47 Minuten bestieg, war es jedem Normalsterblichen klar, dass das eine unglaubliche Leistung ist. Für Menschen, die sich in den Bergen auskennen, war die Leistung genau so unbegreiflich. Als Daniel Arnold noch schneller war, holte Ueli Steck den Rekord mit 2 Stunden, 22 Minuten und (man zählt nun auch die Sekunde) 50 Sekunden zurück. Stellen Sie sich vor: Sie rennen 28 Mal nacheinander auf die Plattform des Münsters von Bern und brauchen dafür je 7 Minuten. Dann stellen Sie sich vor, dass Sie sich im steilen Fels und Eis befinden, in der Winterkälte, weil man nur dann vor Steinschlag geschützt ist.
Dank seiner immer grösseren Meisterschaft im Speedklettern erhöhte Ueli Steck seine Sicherheitsreserve, vor allem für Besteigungen in der "Todeszone". Die beginnt auf Höhen über 7000 Meter, wo das Risiko von Hirn- und Lungenödemen sprunghaft zunimmt. Je schneller man sich dort bewegt, desto weniger lang befindet man sich in dieser Zone, desto geringer ist das Risiko. Ueli Steck war ein Ausnahmeathlet, physisch und mental. Es war daher nur logisch, dass er sich das wohl letzte ganz grosse Ziel in den Bergen der Welt vorgenommen hat: die erste Überschreitung des Mount Everest über das Hornbein Couloir und den Westgrat und die anschliessende Traversierung zum Lhotse (mit 8516 Metern der vierthöchste Berg der Welt). Diese Tour steht wegen ihrer technischen Schwierigkeiten, ihrer Länge und der enormen Höhe über allem, was bis heute geschafft wurde. Ueli Steck, das haben die Interviews im Vorfeld seiner Abreise nach Nepal gezeigt, hat das Risiko sehr rational eingeschätzt. Er wusste, auf was er sich einliess. Dass er, bevor er in die Wand eingestiegen war, auf einer Akklimatisierungstour abstürzte, ist schwer fassbar. Warum? Wir werden es nie wissen. Er teilt damit das Schicksal vieler Spitzenbergsteiger, die an verhältnismässig leichten Passagen zu Tode gekommen sind. Der legendäre Hermann Buhl nach einem Wächtenbruch auf der Chogolisa im Karakorum; Erhard Loretan, neben Ueli Steck der wohl beste Schweizer Alpinist der letzten Generation, auf einer Normalroute in den Schweizer Alpen; Kurt Albert, einer der besten Kletterer aller Zeiten gar auf einem Klettersteig. Ich kenne niemanden, der oft in den Bergen unterwegs ist, der noch nie auf die Hilfe eines Schutzengels angewiesen war. Der Schutzengel hat Ueli Steck im Stich gelassen. Wir trauern um einen grossartigen Sportler und aussergewöhnlichen Menschen.
Benedikt Weibel