Kolumnen von Benedikt Weibel

Feiglinge

"Persönlich" 1. Juli 2017

Während meiner Zeit bei der SBB habe ich jedes Jahr eine Tour de Suisse mit Mitarbeitergesprächen gemacht. An 17 Standorten habe ich mit Tausenden Eisenbahnerinnen und Eisenbahnern aller Führungsstufen diskutiert. Nach einer kurzen Einleitung wurden gut zwei Stunden lang Fragen gestellt, beantwortet und darüber gestritten. Ich war immer wieder überrascht, wie intensiv diese Gespräche waren. Dabei habe ich gelernt: Es gibt innerhalb grosser Organisationen einen Filter, der verhindert, dass negative Meldungen an die Unternehmensspitze gelangen. Schon aus diesem Grund ist es zwingend, dass die Chefinnen und Chefs direkt mit dem operativen Personal kommunizieren. Nur so erhalten sie ein unverfälschtes Bild der Unternehmung und wissen, was Sache ist.

Ganz anders in Kaderanlässen. Da gab es kaum je lebhafte Diskussionen. Ich bin noch heute oft an solchen Veranstaltungen und erlebe die gleiche Zurückhaltung. Höflich, interessiert, gescheit, aber kaum je emotional oder energisch widersprechend. In Finnland haben Forscher herausgefunden, dass es die Schweigekultur war, die zum Fall von Nokia geführt hat. Die Leute im mittleren Management hatten Angst, ihre Meinung zu äussern und die Oberen waren bis ans Ende der Meinung, ihre Produkte stünden an der Spitze der Technologie.

Vor bald 400 Jahren gab König Gustav II Adolf von Schweden den Auftrag, das grösste Kriegsschiff der Welt zu bauen. Das Schiff war schon im Bau, als er befahl, noch ein zweites Kanonendeck zu bauen. Die Schiffsingenieure wussten, dass das Schiff so nicht mehr schwimmfähig war, sie getrauten sich aber nicht, dem König die Wahrheit zu sagen. Sie schwiegen und bauten das Schiff wie befohlen. Am 10. August 1668 lief die Vasa zur Jungfernfahrt aus und sank nach 1300 Metern.

Das "Vasa-Syndrom" ist immer noch weit verbreitet. Wenn immer etwas Gravierendes passiert, die grossen CEO's haben nichts gewusst. Man hat es ihnen nicht gesagt, und dort, wo die Wahrheit gesagt wird, waren sie nicht. Nicht bei Volkswagen, nicht bei den Banken und nicht bei LafargeHolcim. Der Spiegel hat das Thema unter dem Titel "Ende des Katzbuckelns" aufgegriffen. "Es ist eine Situation, die Mitarbeiter fast täglich durchleiden: Das Team kommt zusammen, um das Projekt zu besprechen. Der Chef skizziert das Vorhaben. Und nicht wenige seiner Untergebenen wissen, so wird das nichts. Doch keiner sagt ein Wort." Die hochkotierten Fachleute entpuppen sich als kümmerliche Feiglinge. Feigheit, so der Spiegel, sei angeboren, aber, und das ist die gute Nachricht: Mut lässt sich erlernen.

Man sagt, dass in diesen Zeiten des Umbruchs nicht die grösste, schnellste oder intelligenteste Institution überlebt, sondern die anpassungsfähigste. Feiglinge, so viel ist sicher, haben eine denkbar schlechte Anpassungsfähigkeit. Es ist heutzutage eine der wichtigsten Führungsaufgaben, für eine Atmosphäre zu sorgen, die Widerspruch nicht nur zulässt, sondern kultiviert - und mutige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu rekrutieren.

Benedikt Weibel