Kolumnen von Benedikt Weibel
Lawinen
"SUVA Kundenmagazin" 1. Januar 2017
Eine Schneedecke besteht aus Billionen von Schneekristallen. Wind, Niederschlag und Temperaturschwankungen führen zu einer konstanten Veränderung des Schneedeckenaufbaus. Dabei bilden sich Spannungen, die sich durch äussere Einwirkung, aber auch selbsttätig zur Lawine entladen können. Seit 1936 werden Lawinenunfälle systematisch erfasst. 2000 Menschen sind seither in einer Lawine zu Tode gekommen.
Als junger Bergführer lernte ich, die Lawinengefahr anhand von Schneeprofilen zu beurteilen. Mit Lawinenschaufeln gruben wir Schneekeile in den Hang, interpretierten die Schneeschichten und klopften mit der Schaufel auf den Keil. Wenn es einen Abrutsch gab, war es gefährlich. Das war reine Selbsttäuschung. Nur wenige Meter nebenan konnte ein Schneeprofil einen völlig anderen Aufbau haben. Hätte man die Methode ernst genommen, hätte man vor lauter Graben nie den Gipfel erreicht. Der erste, der gegen diesen Humbug vorging, war Werner Munter mit seiner Devise „denken statt graben“. Er analysierte Lawinenunfälle und stellte fest, dass wenige Faktoren - Gefahrenstufe, Hangneigung und Hangexposition, - das Risiko massgeblich beeinflussen. Seine Reduktionsmethode wurde weltweiter Standard, und Werner Munter gilt heute als Lawinenpapst.
Die Lawine ist ein treffliches Beispiel für ein Phänomen mit grosser Komplexität. Trotz dieser Komplexität sind es wenige Faktoren, welche das Risiko erheblich reduzieren, wobei ein Restrisiko immer bestehen bleibt. Der Chirurg, der im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation eine Checkliste für Operationen entwickelt hat, ist zum selben Schluss gekommen: Selbst in extrem komplexen Situationen gibt es ein Muster mit wenigen, hoch signifikanten Variablen.
Wie die Statistik zeigt, haben sich 58 Prozent aller tödlicher Lawinenunfälle bei der Gefahrenstufe 3 (erheblich) ereignet. Die Handlungsanweisung ist eindeutig: Bei Gefahrenstufe 3 und höher sind offene Hänge mit über 30 Grad Neigung tabu.
Benedikt Weibel