Kolumnen von Benedikt Weibel
Sophistische Einfachheit
"Persönlich" 1. Mai 2017
Der Satz ist so berühmt, dass er einer ganzen Reihe von Geistesgrössen zugeschrieben wird: Voltaire, Marx und Goethe.
„Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen einen so langen Brief schreibe, für einen kurzen hatte ich nicht die Zeit.“
Es sind in dieser Aussage zwei Weisheiten verpackt. Kurz ist wirkungsvoller. Kurz ist aufwendiger. Steve Jobs, der Grossmeister der Einfachheit sieht es so: Man muss tief in die Komplexität eintauchen und sie verstehen, um wirklich einfach zu sein. Deshalb war seine oberste Maxime „Simlicity is the ultimate level of sophistification“.
Man hört immer wieder, dass unsere grossen Probleme so komplex seien, dass man sie unmöglich auf eine einfache Formel reduzieren könne, und wenn man das trotzdem tue, sei man ein Populist. Das widerspricht einer fundamentalen wissenschaftlichen Erkenntnis: „Jedes noch so komplexe Problem hat ein eindeutiges Muster von wenigen, signifikanten Variablen“ Algorithmen tun ja auch nicht anderes, als aus immensen Datenbeständen solche Muster filtrieren. Die Schwierigkeit ist nur, dass uns bei den wirklich komplexen Problemen keine Algorithmen helfen und man die Muster durch Nachdenken erkennen muss. „Das Einfache ist schwer“, hat schon der preussische General Carl von Clausewitz erkannt. Und Einstein sagte: „Man muss es so einfach wie möglich machen, aber nicht einfacher.“ Genau das ist der Unterschied zwischen sophistischer Einfachheit und Populismus.
Ein Problem ist dann komplex, wenn zwischen den Variablen gegenseitige Abhängigkeiten und Unsicherheiten bestehen und der Mensch mit seinem bisweilen irrationalen Verhalten eine Rolle spielt. Für solche Probleme gibt es nie eine 100 Prozent-Lösung. Und trotzdem hat sich in vielen Bereichen eine Kultur der „100 Prozent-Abdeckungsparanoia“ etabliert. Sie ist der Hauptgrund für unsere Überregulierung.
Nehmen wir ein fiktives Beispiel: Gewalt im Fussball. (Es wäre ja immerhin denkbar, dass hier irgendeinmal etwas geschieht.) Wer eine maximale Lösung sucht, stellt eine Liste von sagen wir 30 Massnahmen auf. Wer sich mit einer 80-Prozent-Lösung begnügt, sucht nach dem wie die Angelsachsen so schön sagen Low hanging fruit effect - nach den Massnahmen mit der grössten Hebelwirkung. Auf dieser Liste finden sich drei Massnahmen. Die Ressourcen, die hier pro Massnahme eingesetzt werden können, sind um den Faktor zehn höher als beim Maximalansatz. Es besteht eine reelle Chance, dass sich etwas verändert, während der Maximizer nur eine gewaltige Bürokratie kreiert, ohne einer Problemlösung auch nur nahe zu kommen.
Beispiele gesucht? 27 Lebensmittelverordnungen mit 2080 Seiten Erläuterung; 363 Kompetenzen im Lehrplan 21; 1500 Compliance Officers bei der UBS; 1100 Seiten Finma-Regulierung; 2559 Anforderungen für ein neues Tram... Der Irrglaube, man könne Probleme mit Quantität lösen, ist offenbar unausrottbar.
Benedikt Weibel