Kolumnen von Benedikt Weibel

Bekehrung

"Wandermagazin SCHWEIZ" 1. April 2017

Ich wollte kein Wanderer sein. Ich war Bergsteiger, Kletterer, Marathonläufer, Trekker. Leistungsorientiert. Was man nicht messen konnte, war wertlos. Höhenunterschied pro Stunde, Minuten pro Kilometer, Schwierigkeitsgrad. Als ich meinen ersten New York City Marathon bestritt, war ich hingerissen von der Atmosphäre. Zehn Meilen lief ich neben einer Frau, die "Say Hi Diane to Me" auf ihrem Laufshirt stehen hatte, und alle hatten Diane etwas zu sagen. Es war ein harter Moment, als ich abreissen lassen musste. Die Zuschauer harren nicht nur sechs Stunden aus, ihr Enthusiasmus wächst mit der Laufdauer. Die Letzten erhalten mehr Applaus als die Sieger. Wie anders ist es an Läufen in der Schweiz. Der Verbissenheitsindex ist höher, die durchschnittliche Laufzeit tiefer. Je älter die Läuferinnen und Läufer, desto ehrgeiziger sind viele von ihnen. Es dürften die einzigen betagten Menschen sein, die auf den nächsten runden Geburtstag warten. Sie sind dann wieder die Jüngsten in ihrer Kategorie. Auch die Zuschauer sind anders. Mit zunehmender Renndauer wächst höchstens der Mitleidfaktor. Als ich den Jungfrau Marathon betont vorsichtig anlief, hörte ich jemanden am Strassenrand: "Der würde lieber daheim bleiben."

Ich habe dazu eine Theorie. Die Leistungsgesellschaft ist in den USA wesentlich ausgeprägter als hierzulande, deshalb will man sich dort in der Feizeit nicht auch noch einem Stress unterziehen. Diese Reflexion führte mich zu einem befreienden Schritt. Ich legte die Stoppuhr auf die Seite. In der Sprache der Psychologen ersetzte ich den Leistungsanreiz durch den Tätigkeitsanreiz. Zum Beispiel auf einer Skitour. Nicht mehr Höhenmeter fressen, sondern meditatives Hochsteigen, Schritt für Schritt. Auf die Ästhetik der Aufstiegsspur achten. Den Gipfel geniessen und dann die eigene Spur legen. So bin trotzdem Wanderer geworden.

Benedikt Weibel