Kolumnen von Benedikt Weibel

Spuren

"Wandermagazin SCHWEIZ" 1. Februar 2017

Ich habe mich neulich mit Motivationstheorien befasst und war verblüfft, wie wenig gesichertes Wissen vorhanden ist. Was nicht erstaunlich ist. Es fällt einem ja nicht einmal leicht, seine eigene Motivation zu ergründen. Am besten erforscht sind der Leistungsanreiz und der Tätigkeitsanreiz. Der Leistungsanreiz geht von einem selbst gesetzten oder vorgegebenen Ziel aus. Wenn ich ein anspruchsvolles Ziel erreiche, stellt sich ein Erfolgserlebnis ein. Beim Tätigkeitsanreiz liegt die Erfüllung im Tun selbst. Besonders stark ist der Tätigkeitsanreiz bei Wissenschaftlern und Künstlerinnen. Aber auch dort spielt der Leistungsanreiz eine Rolle. Der Mathematiker geht in seiner Tätigkeit völlig auf, er findet seine Erfüllung aber erst, wenn er den unwiderlegbaren Beweis gefunden hat. Als Beispiel für den reinen Tätigkeitsanreiz gilt das Skifahren. Die Erfüllung liegt im Tun und nicht im Erreichen der Talstation. Schon für den Tourenfahrer sieht es anders aus. Der will zuerst auf den Gipfel, folgt also auch einem Leistungsanreiz.

Im Winter bin ich oft in einer Wohnung in den Bergen. Gegenüber ein mässig geneigter Hang, knapp 150 Höhenmeter, wie ein Rechteck aus dem Wald geschnitten, abseits aller Pisten. Nach jedem Schneefall montiere ich die Felle auf die Skier und ziehe im Wald eine nicht einsehbare Aufstiegsspur. Zuoberst im Hang geniesse ich die Vorfreude, bevor ich mich wie ein Slalomfahrer aus dem Starthaus stürze. Ich ziehe meine Schwünge in den jungfräulichen Schnee und komme in einen kurzen, intensiven Flow. Der Motivationsforscher würde mir einen hohen Tätigkeitsanreiz attestieren. Aber die ultimative Befriedigung stellt sich erst ein, wenn ich zurück in der Wohnung bin und meine Spur betrachte. Das Erfolgserlebnis ist nicht grossartig, nur eine stille Genugtuung. Aber sie hält lange an, bis zu nächsten Schneefall. Dann steige ich wieder auf.

Benedikt Weibel