Kolumnen von Benedikt Weibel
Rhythmus
"Wandermagazin SCHWEIZ" 1. Dezember 2016
Seit einer Woche waren wir offline und hatten keinen Menschen gesehen. Am Ufer des Big Salmon River im Norden von Yukon hatten wir nach langem Suchen einen Lagerplatz gefunden, unsere Zelte aufgestellt und die Feuerstelle eingerichtet. Da sahen wir dieses Kanu vorbeigleiten. Eine Frau und ein Mann, ihre Bewegungen synchronisiert, scheinbar mühelos und elegant führten sie ihre Paddel, ohne jeden Spritzer. Dieses Bild des perfekten Rhythmus hat sich in meinem inneren Auge eingeprägt. Nicht dass ich dem Ideal nahe gekommen wäre, aber meine Technik hat sich doch etwas verbessert.
Rhythmus bestimmt unser Leben. Der Herzschlag, die Atmung, Tag und Nacht, der Wochenrhythmus, Jahreszeiten; alles ist Rhythmus. Merkmal des Rhythmus ist erstens seine Polarität. Beim Paddeln der Gegensatz von Anspannung und Entspannung. Und zweitens seine Periodizität, die Schwingungen in der Zeit. Im Sport gelten zwei fundamentale Grundsätze: Ohne Stress kein Wachstum. Ohne Erholung kein Wachstum. Wenn ich mit dieser Polarität geschickt umgehe, unterstützt mich ein drittes Merkmal des Rhythmus: die elastische Anpassungsfähigkeit. Ich erhöhe meine Leistungsfähigkeit. Diese Grundsätze gelten nicht nur im Sport. Was immer ich auch tue, ich muss meinen Rhythmus finden.
In meiner Jugend habe ich an den alten Bergführern Mass genommen. Ohne jede Hast, ruhig und geschmeidig gewannen sie Schritt für Schritt an Höhe. Man kann es auch hören: jeder noch so geringe Rutscher ist ein Rhythmusbrecher. Wenn wir mit schweren Rucksäcken auf überlangen Anmarschwegen unterwegs waren, versuchten wir immer zuerst, in den Rhythmus zu kommen. Wenn sich das Gefühl einstellte, eine Art Schwerelosigkeit, meinten wir, jetzt könnten wir bis nach Paris gehen. "Gehen im Gelände" heisst diese Disziplin und sie steht noch immer am Ursprung einer beglückenden Bergwanderung.
Benedikt Weibel