Kolumnen von Benedikt Weibel

Vorbilder

"Wandermagazin SCHWEIZ" 1. Oktober 2016

Halbzeit im Final der Fussball-Europameisterschaft. Werbung. Ich zappe weg. Im Bild ein kleiner, gebückter, alter Mann, der gemächlichen Schrittes einen Bergweg hochsteigt. Hansjörg Müller ist 97 Jahre alt. Jede Woche einmal, erklärt er der Reporterin, steht er in Emmenbrücke um drei Uhr früh auf, damit er mit dem öffentlichen Verkehr die erste Bahn von Vitznau nach Grubisbalm erreicht. Auf die Frage, warum er immer die gleiche Route wähle, zählt er einen Nachteil (der Anfang ist steil) und sechs Vorteile auf: Morgensonne, föhnexponiert, guter Weg, viele Ruhebänke, alle 195 Höhenmeter eine Bahnstation und gute Luft. Beim Gehen schaut er nur auf den Weg. Er sehe ja nichts, meint die Reporterin. Zum Sehen seien die Ruhebänke da, sagt Herr Müller. Beim Gehen denke er nach. Nach acht Stunden erreicht er den Gipfel; ein durchschnittlicher Wanderer braucht dafür drei Stunden. Er erklärt, warum er dieses Ritual eisern durchhält: "Wenn man sich im Alter nicht mehr anstrengt und an seine Grenzen geht, geht alles sehr schnell, nicht nur bei den Muskeln, auch im Kopf." Er sei zufrieden mit seinem Leben. Natürlich habe er Fehler gemacht, das sei aber nicht mehr zu ändern. Wenn er einmal nicht mehr auf die Rigi steigen könne, sei das kein Problem, man müsse das wollen, was noch geht. Diese Bilder werden mir immer in Erinnerung bleiben. Das Finalspiel habe ich bereits vergessen.

Bergführer Ulrich Inderbinen wurde 104 Jahre alt. Mit neunzig Jahren stand er zum 371-sten und letzten Mal auf dem Matterhorn. Als er seinen hundertsten Geburtstag feierte, fragte ihn Radio Rottu, wie er denn zum Tod stehe. Er schaue jeden Tag die Todesanzeigen im Walliser Boten an, seinen Jahrgang finde er dort nie, meinte er. Auf die Frage, wie er es mache, dass man im hohen Alter noch so zwäg sei, gab er sein Rezept bekannt: 'immer süfe, weni süfe; immer ässe, weni ässe; immer löüfe, langsam löüfe.'

Benedikt Weibel