Kolumnen von Benedikt Weibel

Dreieck

"Wandermagazin SCHWEIZ" 1. September 2016

Ein Kind zeichnet einen Berg. Ein flaches, gleichschenkliges Dreieck. Der Niesen. Einer der schönsten Berge, wenn man ihn von Merligen aus betrachtet. Diesen Frühling stehe ich wieder einmal am Fuss dieses Dreiecks. Nach einer Regenperiode scheint endlich die Sonne. Ich blicke in die Höhe, der Gipfel scheint endlos weit weg, 1669 Höhenmeter trennen mich von ihm. Der Niesen ist ein alter Bekannter, und ich weiss, dass ich behutsam angehen muss. So komme ich in den Rhythmus. In meinem Kopf haben sich die Wegmarken eingegraben: die erste Alp, die Abzweigung neben der Bahn, der Wegweiser mit einer Höhenangabe (gut sechshundert Höhenmeter sind geschafft), die Waldhütte, die Mittelstation, die glücklicherweise fast auf Zweidrittelhöhe steht, die Lawinenverbauungen, die Steintreppe, wenig später der magische Moment mit dem Blick auf den nun nahen Gipfel und weit unten Thuner- und Brienzersee.

Die frische, noch kühle Luft, die wechselnden Ausblicke und mein körperliches Wohlbefinden führen zu einer leichten Euphorie, die sich mit zunehmender Höhe etwas verflüchtigt, was zusätzliche Anstrengung fordert. Vor allem aber denkt es in mir. Es wird mir wieder einmal bewusst, wie viele Sedimente an Erfahrung und Wissen wir in unserem Unterbewusstsein abgelegt haben. Stücke davon werden beim Ansteigen ins Bewusstsein befördert. Die Kolumne, die ich jetzt schreibe, materialisiert sich mit jedem Schritt. Stoff für mindestens drei weitere Texte wird angespült, von Zeit zu Zeit tippe ich ein Stichwort ins Handy, damit die Inspiration nicht verloren geht.

Auf dem Gipfel die Genugtuung, es wieder einmal geschafft zu haben. Eine makellose Rundsicht, ein makelloses Berggasthaus, farbige Gleitschirme, die in die Höhe steigen, die Beine strecken und geniessen, im Wissen, dass die Talfahrt mit der Bahn die Kniegelenke schont. Ein perfekter Tag.

Benedikt Weibel