Kolumnen von Benedikt Weibel

Sport?

"Wandermagazin SCHWEIZ" 1. August 2016

Man hört es immer wieder: Wandern ist der beliebteste Volkssport. Aber ist Wandern wirklich Sport? Das sportwissenschaftliche Lexikon bringt mich auf der Suche nach einer Antwort nicht weiter. „Eine präzise oder gar eindeutige begriffliche Abgrenzung lässt sich nicht vornehmen“ und ausserdem verändere sich das Begriffsverständnis laufend. Vielleicht hilft mir der Ngram Viewer. Auf dieser Webseite kann ich ein Wort eingeben und sehen, wie häufig es in sämtlichen seit 1800 veröffentlichten Büchern benutzt wurde. Das Wort „Sport“ erscheint erstmals nach 1890 (vor den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit), dümpelt auf tiefem Niveau vor sich hin und schwingt sich zwischen 1920 und 1936 zu einer einsamen Spitze auf (im Sog der von den Nazis inszenierten Olympischen Spielen von 1936). Seit 1960 nimmt der Gebrauch des Wortes wieder stetig zu. Ganz anders die Kurve von „Wandern“. Das Wort war schon 1800 stark verbreitet. Ab 1880 nahm seine Verwendung bis zu einem Kulminationspunkt 1943 zu, es folgte ein Abfall bis 1975, seither steigt die Kurve wieder an. Am jüngsten Messpunkt wird „Wandern“ vier Mal häufiger verwendet als „Sport“.

Wandern ist also wesentlich bedeutender als Sport. In früherer Zeit hätte man sich dagegen verwahrt, im Wandern blosse Leibesertüchtigung zu sehen. Wandern war der Inbegriff der Romantik. „Der Sehnsüchtige blickt aus dem Fenster und hört Wanderer singen von Aufbrüchen.“ Gedichte (Fahre zu! Ich mag nicht fragen/Wo die Fahrt zu Ende geht) und Liedgut (Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wa-andern) dokumentieren den quasi philosophischen Gehalt des Wanderns. Das ist, scheint es, heute nüchterner Sachlichkeit gewichen. So kann man sich täuschen. Das Buch von H.P. Kerkeling „Ich bin dann mal weg - Meine Reise auf dem Jakobsweg“ stand monatelang auf den Bestsellerlisten. Es würde mich wundern, wenn Kerkeling seine Pilgerfahrt als Sport bezeichnen würde.

Benedikt Weibel