Kolumnen von Benedikt Weibel

Das Momentum

"Persönlich" 1. Juni 2016

Als SBB-Chef hatte ich zum Blick-Chat anzutreten. Neben den üblichen Fragen über Retourrabatt, Verspätungen und zu hohen Preisen war wieder einmal das Rauchen in den Zügen ein Thema. Ich wagte die Aussage, es sei eine Frage der Zeit, bis die Züge rauchfrei seien. Das war dem „Blick“ am anderen Tag eine Frontseite mit allerhand Polemik wert. Wenig später schafften die Italienischen Bahnen als erste das Rauchen in den Zügen ab. Wir stellten gleichzeitig fest, dass die Reservationen für Raucherplätze in den TGV’s nach Paris einbrachen. Wir waren gezwungen, Kundinnen und Kunden unfreiwillig in den Raucher zu platzieren, eine regelrechte Vergewaltigung von Kundenbedürfnissen. Nun war es klar, dass der Moment gekommen war, um das Rauchen aus den Zügen zu verbannen. Selten habe ich einen Entscheid mit derart positiven Folgen erlebt. Die Kosten für die Reinigung sanken und die Kundenratings für Platzangebot, Sauberkeit und Klima in den Zügen stiegen sprunghaft an. Polemik in den Medien? Das war gestern. Können Sie sich heute vorstellen, in einem feinen Restaurant zu essen, wo Ihr Nachbar eine Monte Christo raucht?

Vor 13 Jahren gelangte ein internes Papier des damaligen Bundespräsidenten Pascal Couchepin über die langfristigen Massnahmen zur Sicherung der AHV an die Öffentlichkeit. Darin war erstmals vom Rentenalter 67 die Rede. Der dadurch verursachte Wirbel war riesig, nicht zuletzt, weil nationale Wahlen anstanden. Die FDP verlor 2,6% Wähleranteil, was vor allem dem Vorpreschen des freisinnigen Bundespräsidenten zugeschrieben wurde. Damit war klar: mit diesem Thema verliert man Wahlen. Also wurde die heisse Kartoffel seither nicht mehr berührt. Obwohl es kaum einen politischen Bereich gibt, in dem die Logik so zwingend nach Handlung ruft. Bei der Einführung der AHV betrug die Lebenserwartung der Männer 66.36 Jahre, jene der Frauen 70,85 Jahre. 2014 wurden die Männer im Schnitt 81 Jahre alt, die Frauen 85.2 Jahre. Nun scheinen sich die Verhältnisse zu ändern. Über die Beratungen der Sozialkommission des Nationalrates über die Zukunft der AHV setzten die Medien den Titel „Schrittweise zu Rentenalter 67“. Und nichts passiert, kein Aufschrei, einfach nichts. Wenig später kann man lesen, dass nach neusten Zahlen des Bundesamtes für Statistik das Durchschnittsalter beim Rückzug aus dem Erwerbsleben bereits heute über dem offiziellen Rentenalter liegt. Der zuständige Bundesrat allerdings vertritt immer noch die Meinung, eine Erhöhung des Rentenalters sei politisch nicht realisierbar.

„Lass nicht die roten Hähne flattern, ehe der Habicht schreit.“ Diese alte Weisheit aus der Zeit der Bauernkriege lehrt uns, dass man auf den richtigen Zeitpunkt warten muss. Wenn aber der Habicht schreit, dann muss man zuschlagen. Wer den Moment verpasst, für den gilt Gorbatschow: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“

Benedikt Weibel