Kolumnen von Benedikt Weibel

Singularität

"Persönlich" 1. Mai 2016

Vor 1.3 Milliarden Jahren umkreisten sich im unendlichen Kosmos zwei schwarze Löcher immer schneller, bis sie ineinander verschmolzen. Dieser Zustand, in dem Raum und Zeit enden, wird in der Astronomie Singularität genannt. Die dadurch ausgelösten Gravitationswellen verbreiteten sich mit Lichtgeschwindigkeit. Am 14. September 2015 registrierten Messgeräte in Louisiana die winzigen Ausschläge.

Der Begriff Singularität wurde von den Protagonisten der Digitalisierung übernommen. Die digitale Transformation dringt in alle Lebensbereiche, aber niemand weiss, was die Zukunft wirklich bringt. Die Aussage des Wissenschaftsphilosophen Karl Popper über die „fundamentale, grosse und unabänderliche Unvorhersehbarkeit der Welt“ gilt mehr denn je. Deshalb, meint Jeff Bezos von Amazon, sei es einfacher, die Zukunft zu erfinden, als sie vorauszusehen. Industrie 4.0, Internet der Dinge, Wearables und Robotik sind solche Zukunftsprojekte. Das radikalste all dieser Vorhaben ist die künstliche Intelligenz.

Deep Blue gewann 1996 als erste Maschine gegen einen amtierenden Schachweltmeister. Am 9. März 2016 besiegte das Programm AlphaGo den besten Go-Spieler. Der Schritt von Deep Blue, der extrem schnell alle Kombinationsmöglichkeiten auswertet, zu AlphaGo ist riesig. AlphaGo basiert auf einem Algorithmus, der neuronalen Netzen nachgebildet und lernfähig ist. AlphaGo kann gegen sich selbst spielen und wird dadurch immer besser. Schach und Go sind Strategiespiele mit klaren, eingrenzenden Regeln. Die besten Entwickler denken weiter. Ihr Ziel ist die Artificial General Intelligence (AGI), ein superintelligenter Computer, der auch ausserhalb definierter Regelsysteme aus Erfahrungen lernt. Diese Maschine ist schnell, präzis und nie müde. Irgendeinmal wird sie so intelligent wie der Mensch. Dann ist das schwarze Loch der Digitalisierung erreicht, die Singularität. In „Verschwörung“, dem vierten Band der Millenium Trilogie, dreht sich der Plot um dieses Thema. „Interessant ist eigentlich nicht so sehr, was passiert, sobald die AGI erreicht ist, sondern was danach kommt.“ Mit der Atombombe hat die Wissenschaft bereits ein Instrument geschaffen, mit dem man die Menschheit zerstören kann. Der Mensch hat die Kontrolle darüber nie abgegeben und ist bis heute mit dem zerstörerischen Potential erstaunlich vernünftig umgegangen. Was aber, wenn der Mensch die Kontrolle über die Maschine, die er selbst geschaffen hat und die ihm immer überlegener wird, verliert? „Schlimmstenfalls sind wir für den Computer dann also nicht mehr interessanter als weisse Mäuse. ... Es könnte das Ende unserer menschlichen Existenz bedeuten.“

Möglicherweise wird die Suppe nicht so heiss gegessen, wie sie gekocht wird. Wir sind ja schon heute von allerhand künstlicher Intelligenz umgeben. Kürzlich schrieb ich einen Text über das Phänomen Burnout. Nach drei Buchstaben griff der Algorithmus ein und schrieb Bürotür. Ich erlebe den Moment der Singularität wohl eher nicht.

Benedikt Weibel