Kolumnen von Benedikt Weibel

Quellen der Kreativität

"Vivo Magazin" 1. März 2016

Die Rohstoffe des Forschers sind Sachkenntnis und Kreativität. Während Sachkenntnis einfach zu umschreiben ist, hängt über der Kreativität der Hauch eines Geheimnisses. Der berühmteste Kreativitätsforscher ist Mihalyi Csikszentmihalyi, dessen Buch „Flow und Kreativität“ zum Standardwerk geworden ist. Er hat gegen hundert „aussergewöhnliche Persönlichkeiten“ interviewt, um das Geheimnis zu knacken. Er ist zum Schluss gekommen, dass sich Kreativität in den verborgenen Winkeln unseres Geistes abspielt, auf die das Bewusstsein keinen Zugriff hat. Was der Komponist Heinz Holliger unlängst in einem Interview bestätigt hat. Man müsse akzeptieren, dass 90 Prozent der Kreativität aus dem Unterbewussten kommen.

Stellt sich die Frage, wie diese Assoziationen mit dem Unterbewussten stimuliert werden. Sicher nicht, indem man am Bürotisch angestrengt nachdenkt. Csikszentmihalyi nennt verschiedene Aktivitäten, die unbewusste kreative Prozesse fördern: Spazierengehen, Duschen (das Rezept von Woody Allen), Schwimmen, Gartenarbeit, Weben, Holzarbeiten. Aus eigener Erfahrung füge ich noch hinzu: Fahrradfahren und Zugfahren. All diese Tätigkeiten kann man unter einem Stichwort zusammenfassen: Kontemplation, was man etwa mit Beschaulichkeit umschreiben kann. Deshalb bauen kreative Menschen bewusst kontemplative Phasen in ihre Tagesroutine ein. Von all den beschriebenen Möglichkeiten ist der Spaziergang die häufigste und wohl auch effektivste. Der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman wollte es genau wissen. Er hat festgestellt, dass seine geistige Agilität bei einem Marschtempo von 5.3 Stundenkilometer am grössten ist. Auch Steve Jobs hat auf die kreativitätsfördernde Wirkung des Spaziergangs geschworen. Wann immer er ein Problem hatte, ging er spazieren.

Eine wichtige Rolle spielt der Zufall. Franz Anton Mesmer war ein angesehener Arzt im Wien des späten 18. Jahrhunderts. Ein Bekannter erzählte ihm, dass eine Frau, die von schweren Magenkrämpfen geplagt war, durch die Berührung mit einem Magneten geheilt wurde. Mesmer wandte die Methode selber an und erzielte nie erwartete Heilerfolge. Es half bei Ohrensausen, Schlafstörungen, Gicht, ja selbst bei Lähmungen. Mesmer wurde mit der Zeit bewusst, dass es nicht der Magnet war, welcher die Wirkung erzeugte, sondern sein Verhalten als Arzt und der Glaube des Patienten an eine heilende Wirkung. Später wurde das Phänomen unter dem Begriff Suggestion bekannt. Der amerikanische Arzt Henry K. Beecher operierte im Zweiten Weltkrieg in einem Lazarett an der Front. Als die Vorräte mit schmerzstillendem Morphium ausgegangen waren, setzte er Spritzen mit einer Kochsalzlösung, was zu einer Linderung der Schmerzen führte. 1955 schrieb er den bahnbrechenden Artikel „The powerful placebo“, in dem er nachweisen konnte, dass 35 Prozent der Patienten positiv auf Scheinmedikamente reagieren. Damit hat er den Beweis für die heilende Kraft der Suggestion erbracht - sofern ein Patient darauf eingestellt ist.

Mehrere Zufälle führten zur Entdeckung des ersten Antibiotikums Penicillin. Der französische Arzt Ernest Duchesne bemerkte, wie Stallknechte die Sättel für ihre Pferde in einem dunklen, feuchten Raum aufbewahrten. Die Sättel wurden vom Schimmelpilz befallen, was die Heilung der Wunden beschleunigte, die beim Reiten entstanden waren. Alexander Fleming, der als Entdecker des Penicillins gilt, musste feststellen, dass seine Staphylokokken-Kultur von einem Schimmelpilz befallen wurde. Er untersuchte den Pilz und stellte fest, dass er eine keimtötende Wirkung hatte.

Eine fast unerschöpfliche Quelle der Kreativität ist das Internet. Kreative Köpfe sind auf die Idee gekommen, die Patienten in den Forschungsprozess einzubinden. Es sind die Patientinnen, die tagtäglich mit ihrem Leiden umgehen müssen und entsprechende Strategien entwickeln. Mit dem Ziel, dieses Potential auszunutzen, haben Forscher die Plattform www.patient-innovation.com gegründet. Patienten geben dort ihre persönlichen Methoden im Umgang mit ihren Krankheiten ein. Andere Nutzer können die Vorschläge aufnehmen und bewerten. Gute Ideen werden prämiert. Bisweilen führt der Zufall zu einer Prämie. Wie bei einer Frau, die an einem Kindergeburtstag feststellte, dass ihr gehbehinderter Sohn immer wieder versuchte aufzustehen, um schwebende Luftballone zu greifen. Vorher war es ihr auch mit viel Zureden nicht gelungen, ihren Sohn zum Aufstehen zu bewegen. Sie installierte in ihrem Hause schwebende Luftballons. Heute kann der Knabe ohne Hilfe aufstehen und gehen. Die Frau ist unbewusst dem Trend zur “Gamification“ gefolgt, die den Spieltrieb der Menschen als Motivator nutzt und damit erstaunliche Ergebnisse erzielt .

Auch in einem anderen Fall führte der Zufall Regie. Die Stoffwechselkrankheit Mukoviszidose fördert die Schleimbildung in der Lunge, was zu Atemweginfektionen führt. Ein Patient stellte während eines Konzerts fest, dass niederfrequente Vibrationen des Lautsprechers das Abhusten des Schleimes förderten. Er entwickelte ein Gerät, dass eben diese Schallwellen erzeugt. Seither hat sich sein Bedarf an Antibiotika erheblich verringert.

Es gibt einen besonderen Humus, auf dem kreative Ideen gedeihen. Dank dem World Wide Web verbreiten sich diese Ideen wie nie zuvor. Forschung und Innovation entstehen nicht mehr nur in den Labors der Pharmariesen. Wenn nur schon ein kleiner Teil dieser Ideen zu Projekten und schliesslich zu neuen Heilungsmethoden führt, gibt das vielen Patientinnen und Patienten neue Hoffnung.

Benedikt Weibel