Kolumnen von Benedikt Weibel

Einhörner erobern die Welt

"Schweiz am Sonntag" 7. Februar 2016

'Es ist einfacher, die Zukunft zu erfinden, als sie vorauszusehen.' Der Spruch stammt von Jeff Bezos, Gründer und Präsident von Amazon, und er charakterisiert die Mentalität im Silicon Valley. Steve Jobs wollte mit Apple 'eine Delle ins Universum schlagen', und das ist ihm mit den drei epochalen Innovationen iPod, iPad und iPhone auch gelungen. Apple wurde das wertvollste Unternehmen der Welt mit einem Börsenwert von rund 700 Mrd Dollar. Das entspricht ungefähr dem Bruttoinlandsprodukt der Schweiz, dem Wert aller Güter und Dienstleistungen, die hier während eines Jahres produziert werden. Seither ist der Börsenwert von Apple gesunken, obwohl das Unternehmen immer wieder rekordhohe Gewinne ausweist. Diese Woche wurde Apple an der Spitze der wertvollsten Unternehmungen von Alphabet abgelöst. Ein Name, den es vor einem Jahr noch gar nicht gab.

Alphabet war vorher Google. Im letzten Jahr hat sich der Konzern umstrukturiert und sich einen neuen Namen gegeben. Das sich prächtig entwickelnde Stammgeschäft rund um die Suchmaschine wurde von den übrigen Bereichen abgespaltet und heisst weiterhin Google. Dazu gehören auch YouTube, Google Maps, Google Play und die Onlinedienste für Werbung. Um dieses Stammgeschäft herum sind sieben Tochtergesellschaften gruppiert, die in verschiedensten Bereichen neue Geschäftsfelder entwickeln. Zum Beispiel Nest für Smart-Home- Technologien. Oder Calico, wo Medikamente gegen die Alterung entwickelt werden. Und Google X, mit einer Forschungsabteilung für ausgefallene Projekte wie das selbstfahrende Auto. Mit dieser Neuorganisation hat Google nicht nur mehr Transparenz geschaffen, sondern auch zum Ausdruck gebracht, mit welcher Power man in neue Bereiche vorstösst. 'Man muss grosse Unternehmen so strukturieren, dass alle Bereiche vom Know-how des Konzerns profitieren, aber gleichzeitig die Agilität des Ladens um die Ecke behalten.' Als Jack Welch diese Aussage machte, war er CEO von General Electric, damals das höchstkotierte Unternehmen der Welt. Genau das ist die Idee der Neuorganisation von Google.

Apple, kann man dieser Tage lesen, ist zur 'Old-Economy' geworden. Das Geschäft boomt zwar, der Groove einer Firma, die mit neuen Produkten die Welt verändert, ist aber entschwunden. Selbst ein phantastisch laufendes Stammgeschäft wird an der Börse weniger gut bewertet als vielversprechende Zukunftsprojekte. Dass Alphabet nun höher kotiert ist als Apple, ist ein weiteres Zeichen dafür, dass Digitalisierung und neue Technologien unsere Welt radikal und mit einem enormen Tempo verändern. Neben den etablierten Unternehmungen stossen unzählige Startups in neue Bereiche vor. Sie alle wollen „Einhörner“ werden, so werden Startups genannt, welche die Geschäftsmodelle ganzer Branchen umpflügen. Sie basieren auf neuen, unkonventionellen Ideen. Sie sind schnell und agil und nehmen hohe Risiken in Kauf. Die meisten scheitern, aber diejenigen, die sich durchsetzen, bedrohen die Substanz der 'Old Economie'. Das wird ein Kampf einer Armada von Schnellbooten gegen schwer zu manövrierende Ozeandampfer.

40 Prozent der 500 grössten Unternehmen der Welt, so die Prognose, werden in zehn Jahren keine Rolle mehr spielen. Am meisten gefährdet sind die grossen Konzerne mit ihren scherfälligen bürokratischen Strukturen. Der 'Spiegel' hat unlängst Siemens durchleuchtet und einen passenden Titel über die Geschichte gesetzt: „Unter Geiern“. Es wird beschrieben, wie Entscheide über endlose Zuständigkeitsketten von unten nach oben verlegt werden, was zu „struktureller Veranwortungslosigkeit“ führe. Der „Prozesswahnsinn“ lähme die Kreativität und die wenigen Querdenker würden von den Controllern gebremst. Deshalb wird jetzt bei Siemens über ein „Google-Modell“ mit weitgehend autonomen Firmen in der Firma nachgedacht. Es wäre ein Irrtum, zu glauben, dass Siemens ein Einzelfall ist.

Man sagt, der Höhlenbewohner reagiert erst, wenn der Bär vor der Höhle steht. Die Umwälzungen, die uns bevorstehen, sind nicht mehr weit von der Höhle entfernt. Es ist an der Zeit, dass sich jedes Unternehmen der Frage stellt: Wie sieht das Einhorn aus, das mein Geschäftsmodell zerstört? Das braucht den Mut, Tabus zu brechen. Das braucht Fantasie, um sich vorzustellen, was das Neue sein könnte. Das braucht Inspiration, um Gegenstrategien zu entwickeln. Das braucht die Agilität des Ladens an der Ecke.

Benedikt Weibel