Kolumnen von Benedikt Weibel

Schluss mit halbherzigen Lösungen für die Altervorsorge

"Schweiz am Sonntag" 27. Dezember 2015

Die Nachricht: Parlament und Bundesrat sind erneuert, alle wählerstarken Partei sind wieder voll in die Regierung eingebunden. Zeit also, die wirklich drängenden Fragen anzugehen. Dazu gehört die Sicherung der Altersvorsorge. Bundesrat Tschudi, konnte man dieser Tage lesen, habe in den Boomjahren den Boden für die soziale Sicherheit gefestigt. Seither ist dieser Boden morsch geworden.

Der Kommentar: Wenn ich mein sportliches Frühprogramm absolviere, schaue ich mir im Fernsehen das deutsche Morgenmagazin an. Da fällt mir auf, wie anders die politischen Kernfragen in Deutschland gewichtet werden. Wenn Menschen gefragt werden, ob man in Zukunft mit einer sicheren Rente rechnen kann, ist die häufigste Antwort 'Nein'. In einem Beitrag über die Veränderung der Alterspyramide fallen Sätze wie: 'In Deutschland werden mehr Windeln für alte Leute verkauft als für Babys.' Es wird über die gewaltigen Herausforderungen berichtet, mit welchen sich die Pflegeeinrichtungen schon heute auseinandersetzen. Und über das, was wir noch zu erwarten haben. Zum Beispiel, weil in Deutschland die Anzahl dementer Menschen jährlich um 40'000 zunimmt.

Was man unter dem harmlosen Titel „Veränderung der Demografie“ zusammenfasst, ist bei uns noch brisanter als in Deutschland, weil die Lebenserwartung höher ist. Die AHV wurde 1948 eingeführt. Das Pensionsalter wurde für beide Geschlechter auf 65 Jahre festgelegt. Die mittlere Lebenserwartung betrug damals für Männer 66.36 Jahre, für Frauen 70.85 Jahre. 2014 werden die Männer im Durchschnitt 81.0 Jahre alt, die Frauen 85.2 Jahre. Besonders eindrücklich ist das Wachstum der über 100-Jährigen. Ihre Zahl ist von 61 im Jahr 1970 auf 1556 im letzten Jahr gestiegen. Man geht davon aus, dass sich dieser Wert in der Zukunft alle zehn Jahre verdoppelt. Wer diese wenigen Zahlen unvoreingenommen betrachtet, kommt zu zwei Schlüssen. Diese Entwicklung gefährdet erstens das System unserer Altersvorsorge. Und zweitens ist es offensichtlich, dass kein Weg an der Erhöhung des Rentenalters vorbeiführt.

Es gibt einen Grundsatz im Leben: Man sollte sich nicht gegen die Logik stellen. Das gilt auch in dieser Frage. Die Debatte über die Zukunft der AHV wird aber seit Jahren von der Annahme geleitet, dass eine Erhöhung des Rentenalters politisch chancenlos ist. Fragen Sie doch einmal einen Teenager. Kaum einer unterliegt der Illusion, dass er bereits mit 65 in die Pension geht. Zwei Anläufe zur 11. AHV-Revision sind gescheitert und nun heisst das Projekt „Altersvorsorge 2020“. Ausser der längst fälligen Angleichung des Rentenalters der Frauen wird am Referenzalter 65 Jahre nicht gerüttelt. Die Kommentare über die Vorlage, die sich zurzeit in der parlamentarischen Beratung befindet, haben den gleichen Grundtenor: Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber eher ein halbherziger und er wird das Grundproblem nicht lösen.

Die AHV ist nur ein Teil des Problems. Das unaufhörliche Wachstum der Lebenserwartung gefährdet auch die zweite Säule der Altersvorsorge. In einer denkwürdigen Abstimmung wurde 1972 die Initiative für eine Volkspension wuchtig verworfen und den Gegenvorschlag mit einer obligatorischen zweiten Säule angenommen. Seither äufnen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Unternehmungen mit ihren Beiträgen einen Kapitalstock, aus dem die Renten bezahlt werden. Dieses System funktioniert, solange mit dem Kapital angemessene Renditen erzielt werden. Das ist in der aktuellen Tiefzinslandschaft kaum mehr möglich. Man kann heute 10 Jahres-Hypotheken mit einem Fixzins von 1.05 Prozent abschliessen. Das ist ein Zeichen für die Stabilität dieser Situation. Da wird auch das Ende der Nullzinsära in den USA nichts ändern.

Um das Fass voll zu machen, kommen auf die älteren Menschen horrende Pflegekosten zu. In stationären Einrichtungen sind Monatsbeträge von 10'000 Franken und mehr keine Seltenheit - pro Person. In Deutschland gibt es eine obligatorische Pflegeversicherung, in der Schweiz können sich nur Vermögende eine Zusatzversicherung leisten. Wenn in einem Pflegefall die Ausgaben die Einnahmen eines Patienten übersteigen, müssen Ergänzungsleistungen für die AHV beantragt werden. Die AHV kommt damit zusätzlich unter Druck. Und das böse Wort von der Altersarmut nimmt Gestalt an.

Geschätzte Parlamentarierinnen und Parlamentarier, werter Bundesrat: Ihr Volk erwartet, dass Sie den Boden für die soziale Sicherheit wieder festigen. Es zählt auf Ihre Weitsicht und Ihren Mut. Machen Sie Nägel mit Köpfen.

Benedikt Weibel